15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Kleidung, Macht, Leute – Anzügliches (Teil V: Maskulines – Abschluss)

von Lutz Unterseher

Fall 5 – Geburtstagsparade: Es war am zweiten Sonntag des Juni 2007: Geburtstagsparade zu Ehren Ihrer Majestät. Ich saß auf der Diplomatentribüne des Paradeplatzes in Whitehall. Die befreundete Botschafterin eines befreundeten, tendenziell deutschsprachigen Landes (sie sagt gerne „verfreundet“) hatte mich mit Erlaubnis des Buckingham Palace als Begleiter mitgenommen.
Das große Orchester der vereinigten regimental bands spielte Beethoven, Meyerbeer, Elgar und Militärmärsche, darunter auch wunderschöne aus der Zarenzeit. Die Truppenteile des königlichen Haushalts bewegten sich auf ihre Positionen. Die Kürasse, Helme und Säbel der Kavallerie blitzten im Sonnenlicht und bereicherten das Weiß-Blau-Rot der Reitermonturen um eine operettenhaft martialische Note.
Die Garderegimenter zu Fuß trugen einheitlich dunkle Bärenfellmützen und schwarze Röhrenhosen, dazu leuchtend rote Jacken, redcoats, mit langen Rockschößen (im Hinblick auf den Farbkontrast wohl eine der wesentlichen Inspirationsquellen Angela Merkels). Der Aufmarsch war komplett, als die leichte berittene Artillerie hereindonnerte, deren Personal bei dieser Parade übrigens ausschließlich aus jungen Frauen bestand: in ihren über der Brust nach Husarenart geschnürten, rabenschwarzen Uniformen.
Links von uns befand sich die Tribüne der britischen Regierung. Deren zahlreiche Mitglieder wurden von einem Mr. Blair angeführt. Offenbar hatte man sich viel zu erzählen. Man war von der Parade nicht fasziniert und quatschte lieber, benahm sich aber ansonsten gesittet. Frauen gab es in diesem Kreis kaum. (Zwar zählt die britische Politelite mittlerweile eine ganze Menge Damen, doch mag die Präsenz bei Militärparaden nicht so ganz deren Sache sein.)
Die Herren trugen durchweg ordentliche Standardanzüge für bessere Anlässe, so genannte lounge suits, in gedeckter Farbgebung: dunkelblau oder anthrazit, mit oder ohne feine Nadelstreifen. Dazu meist einfach geschnittene Hemden in hellblau, lila oder weiß und deutlich kontrastierende Krawatten vom Club- oder County-Typ (letzteres, um Zugehörigkeiten, Verwurzelungen, anzuzeigen). Die Schuhe waren schwarz („no brown shoes with a dark suit or after five!“) und meist ausgelatscht. Der typische Anzug verriet den Londoner Schneider: in den Schultern recht schmal, sonst etwas tailliert und um das Hinterteil herum ein wenig glockig, Schlitz in der Mitte. So hat es der Gentleman gern.
Rechts übers Eck, von uns aus gesehen, befand sich eine weitere Tribüne – nämlich die der ausländischen Militärattachés sowie der hohen Offiziere Britanniens. Diese boten ein gar farbenprächtiges, fröhliches Bild. Das Braun, Khaki, Grün, Oliv, Dunkelblau, Graublau, Taubenblau und Weiß der Uniformen war geziert von den roten Tupfern der Kragenspiegel sowie dem glänzenden Gold der Rangabzeichen und Orden. Die mit viel Soldatenschweiß polierten Schuhe reflektierten die Sonne. Im Übrigen ist noch zu notieren, dass auch diese Gruppe sich zu benehmen wusste.
Ganz anders die Diplomatentribüne: Zwar hatten die dorthin Geladenen vom Palast klare Hinweise bekommen, wie denn die dem Anlass entsprechende Kleidung auszusehen hätte. Die Damen sollten möglichst in Kostüm plus Hut erscheinen, während den Herren das Tragen eines lounge suit abverlangt wurde. In Ausnahmefällen war „Nationalkleidung“, also ein folkloristischer Touch, zu akzeptieren, denn auch bei Hofe wollen die Verantwortlichen seit einigen Jahren mit der Zeit gehen. Doch hielt sich, zumindest unter den Herren, außer dem US-Botschafter und mir niemand an die Regelung des Protokolls. Und der Mann aus Washington kam – wieder einmal – zu spät, um damit im Auftrag seines obersten Dienstherrn die Monarchin zu düpieren.
Wie trug man sich auf der Diplomatentribüne? Ich beschränke mich auf eine Skizze der Herrengewandung. Um es vorwegzunehmen: Der Gesamteindruck war grässlich. Die eine Hälfte der Herren trug Kombinationen, bei denen typischerweise kaum etwas zusammenpasste. Eine der seltenen Ausnahmen bildete der russische Botschafter: auch er zwar ohne Anzug, aber in teurem Tweedjackett und dazu farblich abgestimmten Beinkleidern. Etwa ein Viertel zeigte Elemente von „Nationalkleidung“, mitunter bunteste Leibchen, teppichartige Überwürfe oder eigenwillige Kopfbeckungen, etwa nach Art des „Nehru-Schiffchens“. Und das letzte Viertel hatte Anoraks oder Regenjacken übergezogen – auf eine Weise, dass die Kleidung darunter nicht näher bestimmt werden konnte. (Lounge suits waren aber wohl nicht dabei.)
Auch jene, deren eigentliche Bekleidung erkennbar war, hatten sich zu einem guten Teil mit Regenjacken bestückt, die sie offen oder um die Schultern gelegt trugen. Es war in der Tat Schauerwetter vorhergesagt worden, und so hatte man sich ausgerüstet wie für eine Landpartie. Erfindungen wie der Regenschirm oder der leichte Regenmantel, der sich über dem Arm tragen lässt, schienen unbekannt. Um das Bild abzurunden: Geputzte Schuhe waren in dieser Runde eine Rarität.
Nachdem ausgesuchte Soldaten den Truppenteilen im Rahmen eines anrührend aufwendigen Zeremoniells die Fahnen präsentiert hatten, für die notfalls zu sterben wäre (Trouping the Colour), fuhr die Monarchin zur Begrüßung die Front ab. In ihrer vergoldeten, frühviktorianischen Kalesche kam sie dann zur Begrüßung auch der Gäste. Zuerst war die Regierung dran. Kein Problem. Dann waren wir an der Reihe. Wie geheißen, standen alle auf. Allerdings zückten wie auf ein Kommando neun von zehn Diplomatinnen und Diplomaten ihre Digitalkamera und blitzten, was das Zeug hielt (zu dumpf und unhöflich, um zu bemerken, dass man an einem hellen Junitag die Blitzfunktion ausschalten kann). Auch die Gattin des russischen Botschafters befand sich unter den Rüpeln. Elisabeth II. ließ das alles über sich ergehen, schaute aber wegen des Lichtgewitters stoisch an uns vorbei. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch das Fotografieren ohne Blitz erschien mir als Majestätsbeleidigung.

Kleines Fazit: Obwohl unter Druck durch die Geschmacklosigkeiten der rapide expandierenden Freizeitkultur und der Konkurrenz durch die seriösen „Kombinationen“ ausgesetzt, ist der Herrenanzug doch etablierte Arbeitskleidung der Politiker – bei fast allen offiziellen Anlässen verwendbar. Auch die Mode der nach politischer Macht greifenden Frauen unserer Zeit scheint von der Kleidung ihrer männlichen Kollegen beeindruckt. Dabei spielt der Herrenanzug als Orientierungsmuster eine möglicherweise zunehmend wichtige Rolle. In seiner Einfachheit, Praktikabilität und Anpassungsfähigkeit hat dieser sich zum Tausendsassa der Herrenbekleidung entwickelt. Geboten wird eine breite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten für zahllose Gelegenheiten. Es ließe sich – etwas spöttisch – sagen: „Unser Kandidat lebt und wackelt mit dem Schwanze.“ (Nur dass der Anzug keinen Schwanz/keine Schwänze hat: unterscheidet ihn doch dessen/deren Abwesenheit von Frack und Cutaway – Kleidungsstücke, die er nicht ohne Grund verdrängen konnte.)
Zu guter Letzt etwas Irritierendes: Es hat den Eindruck, dass in der Standardbekleidung von Teilen unserer politischen Elite, sowohl unter Frauen als auch – und ganz besonders – unter Männern, die Kontrastierung von schwarz, weiß und rot auf dem Vormarsch ist. Es wurde dazu eine pessimistisch stimmende Hypothese formuliert, die auf eine ideologische Funktion dieser Farbwahl hindeutet: Vortäuschen von Klarheit und Ehrlichkeit, um die Vertretung von Partikularinteressen zu verdecken. Dem wäre weiter nachzugehen. Verwunderlich bleibt aber auf alle Fälle, dass die Farben des Zweiten Deutschen Kaiserreiches auf diese Weise eine Renaissance erleben.