Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Energie vom Fürstenberg

von Wladislaw Hedeler

Einige Kilometer hinter der Mautstelle am Stadtrand von Ulaanbaatar endet die Asphaltstraße. LKW-Fahrer, deren Laster mit Kies oder Kohle beladen sind, warten auf Kundschaft. Der Bedarf an Bau- und Heizmaterial in der ständig wachsenden und scheinbar grenzenlosen Stadt nimmt zu. Jurten, eine Tankstelle, Teestuben und Holzbuden, vor denen sich Reifen türmen, deuten das Ende der Stadt an.
Irgendwann sind auch die Pilzverkäufer und die am Wegesrand Stutenmilch oder Walderdbeeren anbietenden Frauen verschwunden. Im Steppengras zeichnen sich etliche Spurrinnen ab, denn niemand will sich länger als nötig der Staubfahne des vorausfahrenden Autos aussetzen. Die im Talkessel gelegene Hauptstadt mit ihren verstopften Straßen, dem ständigen Gehupe, Smog und Auspuffgestank hatten wir jetzt endgültig hinter uns gelassen.
Ein Abschnitt der sechsspurigen Magistrale, die die Hauptstadt durchschneidet, ist in der Höhe des Parteigebäudes, das im vorigen Jahr von Demonstranten gestürmt und in Brand gesetzt wurde – seitdem steht es leer – seit Tagen für den Autoverkehr gesperrt. Obwohl es sich nur um ein winziges Stück Straße zwischen dem Lenin-Denkmal und dem Suchbaatar-Platz handelt, waren die Folgen der Sperrung in der gesamten Innenstadt zu spüren. Immer mehr ortskundige Fahrer wagten mit ihren Allradjeeps gleich hinter dem Tschingis-Khan-Nobelhotel eine Flußdurchfahrt. Doch auch diese Abkürzung war bald keine mehr.
Aus dem Küchenfenster unseres Quartiers konnten wir täglich diesen mühevollen Kampf um Meter und Sekunden beobachten. Ein eindrücklicheren Anschauungsunterricht über die Leistungsfähigkeit ausrangierter japanischer, koreanischer oder chinesischer Allradfahrzeuge kann man sich kaum vorstellen. Nachdem der Vertrag mit der Mietwagenfirma geschlossen war und unsere Route feststand, konnten wir endlich losfahren. Die erste Reise sollte nach Süden gehen, in einer Woche wollten wir die knapp 600 Kilometer bis in die Ostgobi-Wüste schaffen.
Kurz vor dem Ziel, unweit von Khanbogd, dem Fürstenberg, befindet sich das Kloster Demtschog, bekannt durch sein Weltenergiezentrum. Oberhalb des Tempels hat einer der Mönche den Energiepunkt mit einem Metallstift im Felsen markiert. Hier wollten wir rechtzeitig – zu Vollmond – eintreffen. Der Legende nach soll ein Aufenthalt an der Pilgerstätte kurz nach Sonnenaufgang, wenn sich Mond und Sonne gegenüberstehen, Glück bringen.
Die darauffolgende Fahrt war, in Abhängigkeit davon, wie lange wir tatsächlich für den Rückweg benötigen, in den Norden, in Tschingis Khans Geburtsregion, geplant. Wegweiser gab es keine, sieht man von einem am Stadtrand aufgestellten Hinweisschild mit den Entfernungen zu den nächsten Verwaltungszentren ab. Genaugenommen sind sie unnütz, denn fast nach jedem Regen ändert sich der Weg. Hauptsache die Richtung stimmt. Orientierungspunkte oder Wegmarken sind in der Steppe selten, viele Brücken waren nach den sintflutartigen Güssen der letzten Tage unterspült, in sich zusammengefallen und so unpassierbar.
Jene, die nicht parallel zur Strecke der Transmongolischen Eisenbahn Richtung Beijing fuhren, konnten mit den aktualisierten Autokarten wenig anfangen. denn bei den eingetragenen Entfernungen handelt es sich um Schätzwerte, und ob die in den Karten verzeichneten Tankstellen tatsächlich Benzin oder Diesel im Angebot haben, hängt immer davon ab, ob nach einem Regen die Tanklaster durchkommen oder nicht.
So ist jede Reise jenseits der vorhandenen Straßen auch immer eine Fahrt in Ungewisse, wenn das GPS versagt, ist nur noch auf die Auskunft der Hirten in den Tälern Verlaß. Weiter oben, in den Bergen, fährt man stundenlang, ohne auch nur eine Jurte zu sehen. Man hofft, daß die Reifen mitmachen und die nächste Tankstelle erreicht werden kann, bevor sich die Tankanzeige dem Reservebereich nähert.
Blühende Landschaften gab es in den schier unendlichen Weiten im Überfluß. Die sanften, von Tälern durchzogenen Berge mit dem kargen Baumbewuchs und den Wiesen voller Enzian, Kugeldisteln, Eisenkraut, Edelweiß, Margeriten, Rittersporn und wilden Zwiebeln gingen allmählich in die Steppe über. Nach drei Tagen Fahrt lagen die letzten Canyons hinter uns. In einem ausgetrockneten Flußbett gruben Nomaden nach Gold. Kohle ist leichter zu haben. Inmitten der Schiefergebirge reichen die Steinkohleflöze bis an die Oberfläche. Wasser gab es zu dieser Jahreszeit nur aus Brunnen. An den Tränken zwischen Saksaulbäumen und Wüstensanddorn herrschte Hochbetrieb. Hirten versorgten Ziegen und Kamele.
Vor hundert Millionen Jahren versank hier ein Waldgebiet in einem Salzsee, heute liegen die versteinerten Baumstämme frei. Die ein nahegelegenes, in den dreißiger Jahren zerstörtes Kloster aufbauenden Mönche wiesen uns den Weg. Es ist nicht die einzige »Sehenswürdigkeit«, zu der sie uns führten, in einem anderen Tal findet man Knochenreste und Spuren von Sauriern. Grund genug, hier die Nacht zu verbringen und am Vormittag des nächsten Tages weiterzufahren. Während unserer Tour über Land kamen wir noch an weiteren Klosterminen vorbei. Diese abgelegenen Pilgerstätten werden, sofern Mittel, Material und Menschen vorhanden sind, provisorisch aufgebaut. An Energie mangelt es tatsächlich nicht.