von Peter Petras
Nachdem sich der Westen zum Sieger des Kalten Krieges erklärt hatte, stülpte er nicht nur die Verhältnisse in weiten Teilen der Welt um, sondern auch die Welt der Begriffe. »Reform«, früher der Inbegriff der Verteilung von Wohltaten durch sozialdemokratische Wohlfahrtspolitik, wurde zu einem Schimpfwort; wenn es von den Herrschenden in den Mund genommen wird, schlottern jedem Hartz-IV-Delinquenten die Knie. »Revolution«, einst Synonym für der Schaffung einer grundsätzlich anderen Welt, mit Marx, Lenin und Che Guevara an der Spitze, mutierte nach der orangefarbenen »Revolution« in der Ukraine und den vergleichbaren Vorgängen in Georgien und Kirgisien zum Inbegriff von »Systemwechsel«, den die CIA stolz an ihre Fahnen heftete. Die US-amerikanischen Zeitungen schrieben wonniglich darüber, daß die vom Westen geheimdienstlich geführten »Stiftungen« das alles maßgeblich veranlaßt hatten.
Das hatte zunächst zur Folge, daß Putin die rechtlichen Grundlagen für das Wirken westlicher Stiftungen in Rußland verschärfen ließ und die politischen Stiftungen in Moskau sich neu registrieren lassen mußten; in China und anderenorts wurde analog vorgegangen. So fiel es den Herrschenden in Teheran nicht schwer, die Demonstrationen gegen die Fälschung des Ergebnisses der Präsidentenwahl als Ergebnis westlicher Einmischung zu denunzieren. Und es verwundert nicht, daß die Chavisten in Caracas dies als glaubhaft ansehen; ihre eigenen Erfahrungen läßt sie dies für plausibel halten. Die Schreiberlinge der entsprechenden Geheimdienste in der deutschen Presse – von gutbürgerlich bis in die Welt des Dschungels – benutzen dies wiederum, um Antiimperialismus an und für sich zu denunzieren, Chavez mit Achmadinedschad in einen Topf zu werfen und dem Militärschlag gegen den Iran erneut das Wort zu reden – das ceterum censeo läuft jetzt schon immer flüssiger von der Feder.
Hinzu kommen die exiliranischen Gruppen und Organisationen in aller Welt. Sie haben ihre eigenen Beziehungen in das Land und betrachten es unter ihrer je spezifischen Perspektive: Die ersten, oft linken Auswanderungswellen gab es, weil der Schah herrschte; die nächsten, meist prowestlich und autoritär eingestellten kamen, weil der Schah nicht mehr herrschte. Dann beteiligten sich die iranischen Linken an der Verfolgung der früheren Schah-Anhänger, wurden von den militanten Islamisten aber ihrerseits verfolgt und vertrieben. Sie alle hoffen auf den Sturz des Mullah-Regimes, mit wessen Unterstützung auch immer. Die sogenannte Volksmudschahidin zum Beispiel wurden erst von Saddam Hussein finanziert, dann von der CIA übernommen, haben ihren Hauptsitz in der Nähe von Paris und verbreiten unablässig Informationen zum Zwecke des »Systemwechsels« im Iran. Welchen Realitätsgehalt sie in bezug auf die reale Lage haben, ist ungewiß.
Die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen haben gesellschaftliche und politische Gründe. Der Iran hat derzeit über 73 Millionen Einwohner, das Durchschnittsalter liegt bei 26 Jahren, siebzig Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Für diese junge Bevölkerung gibt es zu wenige Arbeitsplätze. Der Iran gilt als eine sogenannte Rentenökonomie, das heißt, das Land lebt vor allem vom Export von Erdöl und Erdgas, während ein großer Teil von Agrarerzeugnissen und Industrieprodukten importiert wird. 45 Prozent der Arbeitsplätze sind im »Dienstleistungssektor«, 30 Prozent in der Landwirtschaft und 25 Prozent in der Industrie. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei etwa 15 Prozent, nach inoffiziellen Schätzungen und unter Einrechnung von verdeckter Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bei fast 50 Prozent.
Das Bildungssystem wie die Gesundheitsversorgung sind kostenlos, so daß viele junge Menschen, auch Frauen studieren. Die »besseren Kreise« lassen ihre Kinder oft im Ausland studieren. Wenn diese zurückkommen bzw. ihr Studium abgeschlossen haben, treffen sie auf die Arbeitslosigkeit und die Bedrückungen des islamischen Staates. Zugleich gibt es ein großes Gefalle zwischen Stadt und Land. Wer wohlhabend ist, lebt in Teheran, zumeist im Norden der Stadt. Dort ist man vernetzt, hat Handy und Internetzugang usw. Das spielte bei der Organisation der Demonstrationen und der Übermittlung von Informationen über die Gewalttaten gegen die Demonstranten ins Ausland eine große Rolle. Was außerhalb der Hauptstadt passiert, bleibt dagegen weitgehend unbekannt. Nach Umfragen, die bereits vor der Präsidentenwahl veröffentlicht wurden, war mit einem Sieg von Achmadinedschad zu rechnen. Das heißt, die ländliche, weniger gebildete, stärker religiös orientierte Bevölkerung hat eher Achmadinedschad gewählt und die städtische, gebildetere, eher säkular aufgeklärte Bevölkerung den Gegenkandidaten Mussavi.
Eine Aussage, ob die Wahl korrekt verlaufen ist oder das Ergebnis gefälscht wurde, ist – erst recht von außen – nicht möglich. Wichtiger ist, daß das politische System in sich Begrenzungen enthält. Einerseits gibt es überhaupt Wahlen, im Unterschied zu vielen Golfstaaten, die als gute Freunde des Westens gelten und keinerlei politische Mitwirkungsrechte der Bevölkerungen zulassen, andererseits sind der auf Lebenszeit ernannte religiöse Führer, seit 1989 Ajatollah Ali Chamenei, und der sogenannte Wächterrat den »normalen« Verfassungsorganen Parlament, Präsident und Regierung vorgeordnet. Sie haben eine verfassungsmäßig verankerte und ideologisch (»religiös«) begründete »führende Rolle« und kontrollieren bereits im Vorfeld der Wahlen, wer überhaupt auf die Kandidatenliste darf. Hier wäre ein Vergleich der Herrschaftssysteme zwischen dem späten Realsozialismus und dem iranischen System heute durchaus angebracht. Das Ergebnis ist, daß ein »halbdemokratisches« System, das die Elemente der Wahl enthält, aber sie nicht wirklich zuläßt, auf Dauer nicht funktioniert, weil es immer die Forderung generiert, zu einer tatsächlich institutionell nicht eingeschränkten Wahl zu kommen.
Es geht aber im Iran heute nicht nur um Menschen- und Freiheitsrechte, sondern auch um die gesellschaftliche Perspektive der Jugend und der ganzen Gesellschaft. Die Demonstrationen richteten sich letztlich nicht gegen den »Wahlbetrug«, sondern für andere gesellschaftliche Verhältnisse. Allerdings sollte man sich hier zwei Illusionen nicht machen: Die Mehrheit der Iraner ist nationalistisch eingestellt, will keine Einmischung von außen und ist auch nicht gegen das Atomprogramm; und: Wenn der Erdölpreis erneut steigt, hat das Regime auch wieder größere Spielräume in der Innen- und Sozialpolitik, um die Lage zu entschärfen. Am Ende werden die wirklichen Revolutionen in der Geschichte nicht nur nicht von einer politischen Avantgardepartei gemacht, sondern auch nicht von westlichen Geheimdiensten. Sie werden von der jeweiligen Bevölkerung gemacht, wenn es denn so weit ist, und lassen sich nicht prognostizieren.
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