Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 20. Juli 2009, Heft 15

Mir kommt kaum ein Wort über die Lippen

von Kai Agthe

Am Ende seines mit 57 Jahren viel zu kurzen Lebens muß der Theaterregisseur und Dichter Einar Schleef (1944-2001) ein sehr einsamer Mensch gewesen sein. Das Abseits thematisiert Schleef selten. Aber seine Einsamkeit spürt der Leser auf den letzten Seiten des letzten Bandes der Tagebücher wie einen Eiseshauch. Schleefs Diarien begannen 2004 sukzessive zu erscheinen und umfassen nunmehr fünf Bände mit 2300 eng bedruckten Seiten. Zu Lebzeiten hat sich Suhrkamp geweigert, das Gewalt-Kunstwerk zu publizieren, obwohl es Schleef gern veröffentlicht gesehen hätte. Die Absage des Verlagsleiters Siegfried Unseld erreichte Schleef drei Wochen vor seinem Tod. Nun liegt die Edition abgeschlossen vor – und siehe: Dieses Projekt ist ohne Vergleich in der deutschen Literatur! Aber schon die Bezeichnung Tagebuch ist eine Verlegenheitslösung: Schleef hat den Begriff freizügig ausgelegt. Denn seine persönlichen Aufzeichnungen dienten zwar der Selbstverständigung, waren aber oft ein Versuchsfeld für seine radikal realistische Dichtung.
Der Grundton, auf dem die späten Tagebücher gestimmt sind, ist klagend. Das ist aber nicht mit Larmoyanz oder gekränkter Eitelkeit zu verwechseln. Schleef war zwar Regisseur, Dichter und Maler, aber in erster Linie war er Kritiker, auch und vor allem an sich selbst. Er hat es sich und seiner Umwelt gewiß nicht leichtgemacht. Aber auch sein Umfeld hat ihm oft Knüppel in den Weg gelegt. In einem in dem Band zu lesenden Interview zählt Schleef 17 fristlose Kündigungen auf, die ihm als Bühnenbildner und Regisseur ausgesprochen wurden. Daß er als Theatermann – der behauptete, das Theater nicht zu brauchen – so innovativ war wie kaum ein zweiter, muß heute nicht mehr begründet werden. Hans-Jürgen Syberbergs Aussage, daß Schleef der erste wirkliche Theaterreformer nach Brecht sei, ist bedenkenswert. Richtig ist aber auch: Schleef mochte kein bürgerliches Wohlfühltheater, seine Kunst sollte wehtun. Im Wortlaut der FAZ: »Seine Ästhetik folgt nicht der Theorie, sondern innerer Notwendigkeit.«
Das Erste, was an diesem Buch überrascht: Obwohl .mit fast 500 Seiten so umfangreich wie der vierte Band, der die Jahre 1981 bis 1998 beinhaltet, umfaßt der letzte Band nur drei Jahre. Hatte Schleef – der nach seinem Weggang aus der DDR 1976 erst 1990 seinen ersten Regie-Auftrag in der alten BRD erhielt – in den Neunzigern mit Inszenierungen zu tun, so widmet er sich in seinen letzten Lebensjahren, die ihn Wien und Berlin sehen, verstärkt dem Schreiben. Vom Theater oft monatelang freigestellt, ist ihm sein Tagebuch ein Halt. Auch nach einem Herzinfarkt, der ihn 2001 ereilt und auf Wochen zur Kur nach Graal-Müritz verbannt. Schon 1999 heißt es: »Ich schreibe, ich habe das, was mich beruhigt, zwischen den Buchstaben.«
Das Jahr 2001 hätte, so deutet es sich in den letzten Monaten an, sein Jahr werden können: Im Juni wurde ihm der Else-Lasker-Preis des Landes Rheinland-Pfalz angetragen, zur gleichen Zeit auch eine reizvolle Opern-Regie an der Hamburger Staatsoper. Zusätzlich hegte Schleef eigene Bühnen- und Literaturprojekte. So vollendete er ein Orts- und Personenregister für den dritten, aber bis heute unveröffentlichten Teil seines gewaltigen Roman-Monologs »Gertrud «. Es kam anders: Am 21. Juli vor acht Jahren starb Einar Schleef an Herzversagen. Erst elf Tage später erfuhr die Öffentlichkeit, die ihn nicht vermißt zu haben scheint, von seinem Tod. Seine letzte Ruhe fand er in seiner Heimatstadt Sangerhausen, die er gehaßt hat wie kaum etwas und der er als Dichter, wie ein Blick in sein Werk zeigt, doch alles verdankt. Die letzte Notiz des zuletzt einsamen Menschen lautet: »Mir kommt kaum ein Wort über die Lippen …«

Einar Schleef: Tagebuch 1999-2001. Berlin – Wien. Nachwort: Johannes Windrich, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009, 491 Seiten, 30 Euro