Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 25. Mai 2009, Heft 11

In kapitalistischer Landschaft

von Volker Braun

Marx’ 100. Todestag. In kapitalistischer Landschaft erblicke ich Hinze und Kunze in einer kuriosen Spiegelung. Kunze, der Arbeitgeber, sitzt am Steuer seines Mercedes und Hinze, sein Arbeitnehmer, neben ihm: der wird generöserweise in die Firma mitgenommen. Sie sitzen ja überhaupt im selben Wagen, was ihr Diskurs deutlich belegt; Hinze klammert sich an seinen Arbeitsplatz, und sein Lohnkampf treibt das ökonomische System ebenso weiter in seine Richtung wie die Akkumulationsstrategien des Chefs. Hinzes Kopf ist so gut wie Kunzes besetzt von den Zwängen und Gütern einer effizienten Gesellschaft – und sie rasen gemeinschaftlich in die letzte Krise, die sich als Abgrund auf der Fahrbahn auftut. Um sie her zerstörte Natur, mächtige Waffenbasen, der Hunger von drei Kontinenten. Das Problem ihrer östlichen Kollegen, wie die Plätze am Steuer und im Viehabteil zu verteilen sind, ist längst nicht mehr ihres. Sie haben sich angesichts der tödlichen Gefahr versöhnt, den Klassenkampf pazifiert, denn sie sehen keinen Ausgleich als in dieser Lebensart: dem Konsumismus, der Ausblutung aller materiellen und psychischen Ressourcen. Vor allem Hinze hängt der Utopie eines endlosen Kapitalismus an, er hält wie ein trainierter Affe durch und macht Kunze Mut, Gas zu geben und auf hohen Touren zu fahren. Kunze aber sieht womöglich im Rückspiegel, was sie für arge Charaktermasken der Verkehrsverhältnisse sind, Knechte dieser Megamaschine, die, um weiterzurasen, ihre Insassen blockiert in ihren menschlichen Regungen. Aber der Griff zur Notbremse kommt ihm nicht in den Sinn, oder Hinze würde ihn verwehren. Auf den Feldern vor den schwärenden Städten seh ich zwar Alternatives grünen. Aber mit der Rohkost von Außenseitern lassen sich Hinze und Kunze nicht abspeisen. Auf den Boden der Graswurzeln kann ich sie nicht holen. Sie bleiben bei ihrer schädlichen, überflüssigen Arbeit. Und doch, sehe ich recht, steuert Kunze plötzlich irre lächelnd einen Baum an – warum?, fährt er gegen den dunklen Stamm, der aber morsch und verrottet niederbricht. (1983)

Die Redaktion gratuliert Volker Braun nachträglich zum 70. Geburtstag.