Sobald ich lesen konnte, begann ich mich neben meinen Märchenbüchern und Heldensagen auch für Zeitungen zu interessieren. Meine Eltern hatten das Teltower Kreisblatt abonniert, und aus gelegentlichem Blättern wurde schnell eine tägliche Gewohnheit.
Natürlich war es eine selektive Lektüre, die sich zunächst auf die Lokalnachrichten beschränkte, die Kolumne „Zossen und Umgebung“ zum Beispiel, dann aber unvermeidlich auch durch den „Zeitgeist“ bestimmt wurde. Und der zielte eindeutig auf: Krieg. In Spanien war er zu der Zeit schon erlebbare Wirklichkeit geworden; hierzulande wurde er vorerst nur gespielt und dabei erprobt. Es gab Manöver, Einquartierungen, Luftschutzübungen … Die Erwachsenen verhielten sich distanziert dazu, viele von ihnen mochten die Erfahrungen von 1914/18 noch im Nacken spüren.
Wir Jungs aber spielten Krieg an allen Fronten, selbst in den Schulpausen, wo wir mit ausgebreiteten Armen wie Flugzeuge umherrannten. Jeder wollte Richthofen oder einer der anderen „Helden der Luft“ sein. Das war der Titel eines jener Bücher, die mit dazu beitrugen, meine Kinderwelt der Märchen und Heldensagen vorzeitig zu zerstören.
Jetzt ging es um andere Helden. Es gab auch Bücher über die zur See, zu Lande und in den Kolonien. Ich kannte sie alle. Vielleicht stammt daher mein späteres Interesse für geschichtliche Zusammenhänge. Auf jeden Fall haben sie dabei geholfen, zumindest mein geographisches Weltbild zu vervollständigen. Wie hätte ich sonst je von den Falklandinseln, von Tsingtau oder vom Isonzo erfahren, wenn das nicht Kriegsschauplätze gewesen wären.
Dann der 1. September 1939, Hitler vor dem Reichstag: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Der „richtige“ Krieg war da, hatte zunächst aber noch keine großen Auswirkungen. Gewiss, es gab Lebensmittelkarten, das Lieferauto des Bäckers aus dem Nachbarort kam nicht mehr, die Verdunklungsvorschriften schufen einige Unbequemlichkeiten, zumal sich kein Handwerker mehr im Haus befand. Mein Vater war schon im August einberufen worden, und wir hatten ihn an einem der letzten Friedenstage noch einmal in Döberitz besucht.
Kriegsbegeisterung? Eher gedämpft. Aber wir siegten ja, unerwartet leicht. Die Sondermeldungen überschlugen sich. Es war wie ein Kinderspiel. Wir siegten in Polen, in Norwegen, in Frankreich; unsere U-Boote siegten im Atlantik und unsere Flieger über England. Und die Bevölkerung siegte an der Heimatfront.
Dass man den 1. September und seine Folgen auch anders wahrnehmen konnte, ist eine spätere Erfahrung: ein Urlaubstag in Danzig, Ende der Siebzigerjahre. Wir fahren mit unserem Wartburg zur Westerplatte. Genau hier hatte der Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein“, der zu einem offiziellen Freundschaftsbesuch in der Völkerbund-Stadt weilte, mit dem „Zurückschießen“ begonnen. Stumm blicken wir auf die Überreste der ehemaligen polnischen Hafenbefestigung und fragen uns, wie die heutige Welt wohl beschaffen wäre, wenn es diesen Tag, diesen Krieg nicht gegeben hätte.
Ein anderer Urlaubstag. Mitte der Achtzigerjahre, unweit von Schloss Granitz auf Rügen. Zufällig stoßen wir beim Wandern auf einen kleinen Waldfriedhof, und gleich am Eingang fällt unser Blick auf eine Grabinschrift: „Gefreiter Sowieso, gefallen am 1. September 1939“. Natürlich wusste man, Krieg bedeutet auch Tod, aber so abrupt darauf hingewiesen zu werden, dass jemand gleich am ersten Tag dieses Krieges sterben musste, wirkte doch wie ein Schock.
Dass es einen auch einmal selbst treffen könnte, ist natürlich kein Thema, wenn man zehn, elf Jahre alt ist. Und solange würde der Krieg ja nun nicht mehr dauern, denn wir siegten auch 1941 munter weiter: in Jugoslawien, in Griechenland, auf Kreta, in Nordafrika. Erst vor Moskau, im Winter 1941/42, stieß die Blitzkrieg-Strategie an ihre Grenzen. Man würde sich wohl auf größere Zeiträume einstellen müssen, zumal der Krieg durch den Eintritt Japans und der USA ja gerade erst anfing, sich zu einem echten Weltkrieg auszuweiten.
Tatsächlich sollte er noch über drei Jahre andauern, und ich ahnte nicht, dass ich schon längst in eine längerfristige Planung einbezogen war. In einem Schülerwettbewerb hatte ich die Frage „Welcher Waffengattung gehört meine besondere Liebe und warum?“ mit „Luftwaffe“ offenbar so zufriedenstellend beantwortet und begründet, dass ich nicht nur eine mit Stempel und Unterschrift eines Generals versehene Urkunde erhielt, sondern bestimmt auch einen entsprechenden Vermerk für die spätere Musterung. Dazu ist es dann ja bekanntlich nicht mehr gekommen, auch nicht zum Einsatz als Flakhelfer. „Gnade der späten Geburt“, wie es Helmut Kohl (mein Jahrgang) dereinst nennen sollte. Glück? Zufall? Schicksal?
Schicksal war damals ein geflügeltes Wort. In ihrer Rat- und Hilflosigkeit angesichts des scheinbar Unbegreiflichen, das über sie hereinbrach, flüchteten sich die Menschen in den Schicksalsglauben. Er enthob sie der Mühe des eigenen Denkens, ja Denkenwollens. Ist sowieso alles vorbestimmt und nicht zu ändern. Schicksal eben! Dieser Verzicht auf den Gebrauch des Verstands zugunsten einer geradezu epidemischen Irrationalität liefert vielleicht eine Erklärung für an sich unbegreifliche Verhaltensweisen, bis hin zum starren Glauben oder richtiger vielleicht Glaubenwollen an den „Endsieg“, als der Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ nun wirklich nicht mehr ignoriert werden konnte, wie im Herbst 1944, als die Alliierten zum Rhein vorstießen, die Sowjets nach Ostpreußen und der Himmel über Deutschland den Viermotorigen gehörte.
Genau zu der Zeit, im September oder Oktober 1944, leistete ich meinen glücklicherweise einzigen aktiven Beitrag zum Kriegsgeschehen. Der Führer, hieß es, hätte seiner Jugend eine strategisch höchst wichtige Aufgabe anvertraut, nämlich die Errichtung eines Ostwalls, der den Feind noch jenseits der alten deutsch-polnischen Grenze aufhalten sollte. Der Einsatzort, der uns paar Dutzend Pimpfen zugewiesen worden war, schien hierfür denkbar ungeeignet zu sein: Eine gottverlassene flache Heidelandschaft unweit der an der Bahnstrecke nach Posen gelegenen Kleinstadt Birnbaum, ein paar Zelte, eine Baracke, Sandwege, irgendwo eine verlassene Waldarbeiterhütte … Ich entsinne mich nicht, was wir mit unseren 14, 15 Jahren dort überhaupt gemacht haben. Von großem militärischen Nutzen ist es sicher nicht gewesen und passte so haargenau zu einem jener sarkastischen Soldatenwitze, die damals die Runde machten: „Wie lange brauchen russische Panzerfahrer, um ein deutsches Hindernis zu überwinden? Genau eine Stunde. 59 Minuten lachen sie sich halb tot, und in der 60. Minute fahren sie drüber weg.“
Als es dann ernst wurde, im Januar 1945, hat unser Ostwall offenbar nicht einmal diese eine Stunde standgehalten. Es wäre keine Ehre gewesen, wenn wir das ursprünglich verheißene Schutzwall-Ehrenzeichen wirklich noch erhalten hätten. Fast unbehindert rückte die Rote Armee binnen weniger Tage von der unteren Weichsel über Posen und Landsberg an der Warthe bis zur Oder vor, sogar bis an den Fuß der Seelower Höhen, wo dann – nur noch eine gute Autostunde von Berlin entfernt – im April die letzte große Schlacht dieses Krieges stattfinden sollte.
„Niedergestürzt aus der Höhe wüster Triumphe in den Abgrund tiefster Hoffnungslosigkeit …“ So etwa hat Thomas Mann auf der Schlussseite seines Faustus-Romans den Zustand Deutschlands in jener Endzeit des Krieges in ein schlüssiges Sinnbild gefasst. Die Frage, wie wir halberwachsenen Kriegskinder diesen Zustand konkret und aus nächster Nähe wahrgenommen haben, lässt sich in der Erinnerung weniger schlüssig beantworten. Als Bedrohung? Katastrophe? Untergang? Eher nicht.
Als Hoffnung? Schon gar nicht. Alle Welt war uns feindlich gesinnt; was sollten wir da Gutes von ihr erhoffen? Vorherrschend war wohl eine Art mit Neugier vermischte Nonchalance. Es ging trotz allem ja irgendwie weiter. Weil es keine Steinkohle aus Oberschlesien mehr gab, fuhren die Züge eben mit märkischen Briketts. Und weil sich die Zahl der Schüler durch Ausgebombte und Flüchtlinge verdoppelt hatte, fand der Unterricht eben auch nachmittags statt. Das Radio brachte die beliebten Wunschkonzerte, die Kinos spielten, der Briefträger trug Post und Zeitungen aus, angesichts der Frontlage eine trügerische Normalität. Aber vielleicht brauchte man derartige Selbsttäuschungen wie beispielsweise meine Konfirmation Anfang April: Abgesehen von dem mir zugedachten Bibelspruch „Seid stark im Glauben und geduldig in der Hoffnung“, der ja nun von ironischer Aktualität war, stellte die ganze Zeremonie ein Musterbeispiel gewollter Zeitlosigkeit dar, wobei nur störte, dass es nach dem Gottesdienst gleich wieder Fliegeralarm gab. Aber der gehörte inzwischen ja auch schon fast zur Normalität, mit einer Ausnahme allerdings, es wurde ein neues Signal für die Sirenen eingeführt. Dauerton bedeutete fortan: Panzeralarm!
Ein solcher Fall war in den Richtlinien für die Bevölkerung offenbar nicht vorgesehen. Also musste jetzt wirklich jeder selber entscheiden, was er machen sollte: Gehen (wohin?) oder Bleiben? Die Realität ließ keine Zeit mehr für Illusionen. Nach einer unruhig durchwachten Nacht, in der die Menschen versteckten, was an die Nazi-Zeit erinnern konnte, dröhnten am frühen Morgen vier Panzer durch den schreckensstarren Ort. Keine Sirene war ertönt, kein Schuss gefallen. Später hielt ein solches Ungetüm mit dem roten Stern direkt vor unserem Haus. „Woina kaputt“, sagte einer der Soldaten, der Krieg ist aus. Es war der 22. April 1945.
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