Wäre der Ankläger ein besserer Psychologe, so würde er wissen, daß es diesem Mann nicht auf ein paar Wochen oder Monate Gefängnis ankommt, daß er nichts für sich will, sondern sich nur als Soldat der Menschheit fühlt, der den Platz verteidigt, auf den sein Gewissen ihn gestellt hat.“ Worte von Carl von Ossietzky für Friedrich Wolf. Geschrieben in der Weltbühne im März 1931, als der Kommunist Wolf durch die Justiz zur Symbolfigur im Kampf gegen den Paragraphen 218 gemacht wird. Worte, die Ossietzky für einen Kollegen schrieb und die noch im selben Jahr für ihn selbst gültig wurden, als er im Kampf gegen die politische Justiz auf verlorenem Posten stand. Beide, Friedrich Wolf und Carl von Ossietzky, glaubten an die Wirkung ihrer Symbolkraft – die Justiz ließ sich nicht beirren. Und schaufelte unbeirrt weiter am Grab der ersten deutschen Republik.
Friedrich Wolf war am 19. Februar 1931 verhaftet worden. „Man hat mich“, schreibt Wolf in seinem Bericht am 24. März 1931 in der Weltbühne, „der ich selbst nie einen Eingriff vornahm, der ‚Mittäterschaft’ (nicht der Beihilfe) beschuldigt; man hat mich laut Haftbefehl der ‚gewerbsmäßigen Abtreibung’ bezichtigt, jener diffamierendsten und schwersten Form, auf der Zuchthaus steht. Man will offenbar ganze Arbeit machen mit einem Mann, der seit Jahren in Wort und Schrift gegen diesen Paragraphen kämpft.“
Am 25. Februar wird der Haftbefehl gegen Wolf aufgehoben, „soweit er auf Verabredungsgefahr gegründet ist“. Doch wegen Fluchtverdacht soll eine Kaution von 25 000 Reichsmark gezahlt werden. Unakzeptabel, meint Wolf, und bleibt im Gefängnis. Über die Zeit in der Haft schreibt er: „Dann kam ich in eine hygienisch tadellose Einzelhaftzelle des Untersuchungsgefängnisses. Auch die Behandlung war dort human. Dennoch muß ich gerade im Interesse meiner noch inhaftierten Kollegin betonen, daß jede längere Einzelhaft – und wäre sie in einem goldenen Käfig bei Kaviar und Sekt – einen lebendigen Menschen langsam vernichten kann. Dauernd gehen nachts die Wasserleitungen im Zellenbau, halten die Häftlinge den Kopf unter den Hähnen und schlurfen über und neben einem die Schritte der Schlaflosen.“
Das stand Ossietzky noch bevor: im folgenden Jahr für 227 Tage, eingeschlossen im Tegeler Gefängnis vom Mai bis zum Dezember. In den Tagen, als Ossietzky die Worte für Friedrich Wolf veröffentlicht, schwebt über ihm das Verfahren wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse. Am 30. März 1931 erhebt das Reichsgericht Anklage gegen Ossietzky und Walter Kreiser, den Verfasser des 1929 erschienenen Artikels „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“.
Anfang März, in jenem erwähnten Artikel für Friedrich Wolf, schreibt Ossietzky (nach allgemeinen Anmerkungen zur Justiz und ihrem fatalen Machtmißbrauch zugunsten der immer stärker werdenden Reaktion): „Friedrich Wolf ist eine hochqualifizierte Persönlichkeit, ein Theaterschriftsteller von Ansehen, Verfasser volkstümlicher Schriften über Heilkunde, ökonomisch nicht auf die Erträgnisse einer unerlaubten Hintertreppenpraxis angewiesen. Ein Menschenfreund, ein Sozialist von Geblüt, nicht von Gnaden des Parteibuchs.“
Und weiter: „Die Bewegung gegen den § 218 ist nicht neu, aber es fehlte ihr die zentrale Kraft, sie hat in den letzten Jahren, seit sich das Theater ihrer bemächtigt hat, einen stark literarischen Charakter gehabt, ohne ganz ins Breite zu gehen. Jetzt schenkt ihr ein übereifriger Staatsanwalt, was ihr bisher gefehlt hat: den Vorkämpfer, den makellosen Vertreter der Idee unter Anklage und im Gefängnis; die Mittelpunktsfigur, das Symbol. Bisher war dieser Paragraph ein weit entrücktes, gefährliches Etwas; jetzt haben wir ihn in greifbarer Nähe, jetzt können wir endlich Tuchfühlung nehmen.“
Und er hofft auf eine „stürmische Volksbewegung“, er hofft, daß „ein Kampf entbrennen (wird), in dem sich mehr entscheiden kann als das Weiterleben des § 218“, er hofft, daß die Rechte „ihr wahres Gesicht zeigen muß“, und die Linke nunmehr die Initiative hat. Vergebens. Wolf kommt zwar frei, der Kampf um den § 218 ist nicht beendet.
Wenige Monate später ist Ossietzky Opfer dieser republikfeindlichen Justiz; wenige Monate später ist er in der Rolle des Stellvertreters, der seinen Kopf für eine Bewegung hinhält, die sich als zu schwach erweist im Kampf gegen den Faschismus. Und auch für seinen Fall hegt er dieselben Hoffnungen. Am 1. Dezember 1931 schreibt Ossietzky in der Weltbühne zum sogenannten Weltbühnen-Prozeß: „Ich spreche den heißen Wunsch aus, (…) daß eine Volksbewegung daraus wachse, die dieser politisierten Justiz, die mit Politik noch weniger zu tun hat als mit Justiz, endlich den Abschied gebe. (…) Die Protestationen müssen in den Bereich des politischen Kampfes gegen die machtvoll organisierte Konterrevolution getragen werden.“
Gewiß, es kommt auch im Fall Ossietzky zu einer großen Solidaritätsbewegung. Doch das skandalöse Urteil von anderthalb Jahren Freiheitsentzug hat Bestand. Als es im November 1931 in Münzenbergs „Berlin am Morgen“ über Tage hinweg zu einer Solidaritätskampagne kommt, an der sich Brecht, Döblin, Feuchtwanger, Arthur Holitscher, Ludwig Renn, Armin T. Wegner und andre beteiligen, erhebt auch Friedrich Wolf unter dem Aufruf „Wir protestieren!“ seine Stimme: „Das Urteil gegen den Schriftsteller v. Ossietzky unter dem Diktat der Militärsachverständigen ist ein Schritt weiter zur Militärdiktatur. (…) Protestieren ist gut, Einreihung in die Massenfront aller Werktätigen von Kopf und Hand ist besser, ist heute unerläßlich! Noch eine Stunde weiter, Kameraden, und wir werden nicht mehr protestieren können! Werdet Ihr Euch heute formieren?!“
Eine Lawine ist losgetreten, nun steht Ossietzky im Mittelpunkt politischer Kämpfe. Am Tag seines Haftantritts gibt Ossietzky sich selbst preis, als er seinen Freunden und Feinden in der Weltbühne bekennt: „Über eines möchte ich keinen Irrtum aufkommen lassen, und das betone ich für alle Freunde und Gegner und besonders für jene, die in den nächsten achtzehn Monaten mein juristisches und physisches Wohlbefinden zu betreuen haben: – ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin.“
Auch Friedrich Wolf hatte seinen Prozeß als „eine der Machtproben der neuen geistigen und politischen Reaktion in Deutschland“ gesehen. Am 24. März 1931 schreibt er in der Weltbuhne weiter: „Dieser Prozeß, der uns aufgezwungen wurde, wird Hunderttausenden die Augen öffnen. Auf der einen Seite des Grabens steht das römische Paragraphenrecht mit seinem Beharrungsvermögen; auf der andern Seite aber steht das Rechtsbewußtsein des Volkes, steht das Heer der fünf Millionen Arbeitslosen, die weiter Kinder zeugen oder ,sich enthalten‘ sollen, steht die Million deutscher Frauen, die jedes Jahr zur Selbsthilfe der Abtreibung greift und somit zu , ‚Verbrechern‘ wird. So stehen die Fronten! Eine Machtprobe der Reaktion! Ein Signal für die Massen!“
Friedrich Wolf und Carl von Ossietzky: Zwei Namen – zwei Schicksale. Beide trafen sich noch einmal im „Blättchen“; zwei politische Publizisten unterschiedlicher Weltanschauung, die am Ende der Weimarer Republik ihre Person als Symbol in den Kampf warfen, um den Untergang mit aufzuhalten …
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