Als Carl v. Ossietzky am 10. Mai 1932 die anderthalbjährige Gefängnisstrafe antreten mußte, zu der er in einem skandalösen Prozeß vom Reichsgericht wegen angeblichen Landesverrats verurteilt worden war, hatte er zuvor sein Haus bestellen müssen. Damit war vor allem auch die Frage verbunden, wer während seiner Haftzeit die politische Leitung der Weltbühne übernahm. Wenn er sich für Hellmut von Gerlach entschied, dann lag das nur sehr vordergründig daran, daß beide seit 1919 im selben Haus, in der Genthiner Straße 22, wohnten. Wichtiger war dagegen schon: Gerlach hatte zu dieser Zeit keine feste Anstellung. Nachdem er etwa ein Vierteljahrhundert lang als Chefredakteur die bürgerlich-demokratische Zeitung „Die Welt am Montag“ geleitet hatte, war er 1930 entlassen worden.
Entscheidend wirkte sich jedoch für seine Berufung an die Spitze der Weltbühne aus, daß er zu ihr und ihren Herausgebern langjährige Bindungen hatte. In seinem am 10. Mai 1932 im Blatt veröffentlichten „Kleinen Testament“ schrieb Ossietzky hierzu: „Die politische Leitung wird Hellmut von Gerlach übernehmen, der uns seine reiche Erfahrung zur Verfügung stellt und durch eine ehrenvolle, niemals durch Konzessionen befleckte Vergangenheit die Garantie gibt, daß an der Haltung der ,Weltbühne’ nichts geändert wird. Vor mehr als dreißig Jahren begründete S. J. an der ‚Welt am Montag‘ unter Hellmut von Gerlach seinen Ruf als Theaterkritiker. Vor mehr als zwanzig Jahren bildete ich als blutjunger Mensch meine ersten Arbeiten an seinem Beispiel.“
Ossietzky bezog sich dabei auf das Debüt, das der junge Siegfied Jacobsohn von 1901 bis 1904 unter Gerlach an dessen Zeitung gegeben hatte. Und als Ressortleiter des innen- und parteipolitischen Teils der demokratischen Wochenzeiturig „Das freie Volk“ begleitete Gerlach dann die ersten publizistischen Schritte Ossietzkys.
In den Jahren der Weimarer Republik, 1924/25, trat Gerlach in der Weltbühne durch drei Artikelfolgen hervor. In der einen, die unter dem gleichnamigen Titel „Erinnerungen eines Junkers“ 1925 als Buch erschien, schilderte er episodenhaft den Weg, den er als Sproß einer ostelbischen Junkerfamilie von konservativ-antisemitischen und christlich-sozialen zu demokratischen und pazifistischen Positionen genommen hatte. Im nächsten Jahrgang der Weltbühne gab er in einer Artikelfolge seine Erlebnisse und Erfahrungen wieder, die er 1912 bei einem viermonatigen Aufenthalt in verschiedenen Teilen Westafrikas von der imperialistischen und speziell der deutschen Kolonialpolitik sammeln konnte. Und schließlich folgten noch im selben Jahrgang 19 Beiträge mit Erinnerungen an die „Große Zeit“ des ersten Weltkriegs, woraus dann 1926 das Buch „Die große Zeit der Lüge“ wurde.
Gerlachs politischer Weg „von rechts nach links“ verlief keineswegs geradlinig und besonders auch in der Weimarer Republik nicht synchron mit Ossietzkys Entwicklung, der in Grundfragen des Kampfes um Frieden und Demokratie viel weiter ging und dessen Herz, wie er am Tag seines Haftantritts in der Weltbühne schrieb, „unwiderstehlich dem Zuge der proletarischen Massen folgt(e), nicht dem in Doktrinen eingekapselten Endziel, sondern dem lebendigen Fleisch und Blut der Arbeiterbewegung, ihren Menschen, ihren nach Gerechtigkeit brennenden Seelen“.
Die zwischen ihnen auseinandergehenden Auffassungen hinderten Ossietzky aber nicht daran, das Gemeinsame mit Gerlach als das Wesentliche anzusehen und auch zu verteidigen. Als dieser 1928 von Theodor Wolff, dem Chefredakteur des linksliberalen „Berliner Tageblatts“, ungerechtfertigt angegriffen wurde, nahm Ossietzky einen von ihm in der Weltbühne veröffentlichten Brief an Wolff zum Anlaß, gegen dessen „kurze, wegwerfend spöttelnde Bemerkung“ über Gerlach zu protestieren. „Sehen Sie, hier ist ein Mann, der seit Jahrhundertbeginn im Geiste dessen wirkt, was Sie jetzt wollen, und der immer wieder gelästert und gehemmt wurde, … weil er immer ein paar Jahre voraus war … Der Spott war um so weniger gut angebracht, als Hellmut von Gerlach zu den nicht sehr zahlreichen Demokraten zählt, die im Kriege in bewußter Opposition gestanden haben.“ Deshalb hätten ihn gewisse Herren besonders heftig angegriffen, „die sich mit dem neuen Weimarer Mundwasser noch nicht einmal richtig die Kaiserhochs ausgegurgelt hatten, die ihnen noch im Halse klebten“.
Auf dem Redaktionsstuhl Ossietzkys verstand sich Gerlach, wie er in der Weltbühne schrieb, als „Platzhalter“, der ihn nicht kopieren, sondern sein „politisches Heim“ sauberhalten und „noch ein wenig geräumiger“ übergeben wollte. Das konnte bereits im Januar 1933 geschehen, weil eine allgemeine Weihnachtsamnestie Ossietzkys Haftzeit auf siebeneinhalb Monate begrenzte. Bei seiner Rückkehr fand er ein Blatt vor, das in einer besonders kampfreichen Zeit „Geist und Bestand“ gewahrt hatte.
Leben und Vermächtnis des Demokraten Hellmut von Gerlach sind in der DDR schon immer dargestellt und gewürdigt worden. Je mehr sich die Forschung mit ihm beschäftigte, um so besser und überzeugender ist es gelungen, seine oft sehr widersprüchliche Entwicklung differenziert darzustellen. In den letzten Monaten erschien nun in der BRD eine von Franz Gerrit Schulte verfaßte Dissertation, die Gerlachs publizistisches Wirken zum Thema hat.[1] In seinem Vorwort muß es der westdeutsche Fernsehjournalist Dirk Sager, „um es vorsichtig zu sagen, als Ausdruck weiterer Unsicherheit der bürgerlich regierten Nachkriegsrepublik (der BRD – D.F.) werten, wenn nicht sie, sondern zunächst die ungeliebte Nachbarrepublik DDR in Aufsätzen und Büchern an Leben und Schreiben Hellmut von Gerlachs erinnern ließ“. Sager schließt daran die Überlegung, „warum man es nicht den Kommunisten überlassen soll, an einen Mann zu erinnern, der in der letzten Phase seines Lebens Frieden gemacht hat mit eben jenen, die er auch zu den Gegnern der Republik gezählt hatte“ – und „dies unter dem Eindruck einer möglichen Einheitsfront gegen das Deutschland Hitlers“.
Die Antwort, die Schulte darauf gibt, sollte allerdings nicht ohne Widerspruch bleiben. Um Gerlach gewissermaßen für die BRD salonfähig zu machen, werden dessen – von uns übrigens nie bestrittenen – antikommunistischen und antisowjetischen Vorbehalte überbetont; so wird versucht, das Bild einer – man beachte die Kombination – „konsequent-demokratischen, antikommunistischen Haltung“ zu zeichnen. Wenige Sätze später wird z. B. behauptet, daß der Blutmai 1929 zu Unrecht „von kommunistischer Seite dem Vorgehen Zörgiebels angelastet“ worden sei; es wird mit keinem Wort darauf eingegangen, daß es Demokraten wie Ossietzky waren, die nach eingehenden Untersuchungen ebenfalls den Berliner Polizeipräsidenten öffentlich angeklagt hatten.
Als politischer Emigrant hat sich Gerlach noch am Ende seines Lebens, wie Sager mit Recht feststellt, zur antifaschistischen Volksfront bekannt. Milly Zirker, seit 1928 ständige Mitarbeiterin der Weltbühne und in der Pariser Emigration Sekretärin und enge Vertraute Gerlachs, berichtet in ihrem persönlich an ihn gerichteten Nachruf: „Du hast einen Tag vor Deinem Tod eine wichtige politische Unterhaltung mit einem kommunistischen Führer (Willi Münzenberg – D.F.) gehabt, in der ihr die in Bildung begriffene Einheitsfront der Emigration gegen den deutschen Faschismus mit gleichem Feuer begrüßt habt. Und der Tod traf Dich in der gleichen Sekunde, als Du mir von der Beratung im größeren Kreise sprachst, an der Du am folgenden Abend teilnehmen wolltest, und in der die Fragen der Einheitsfront diskutiert werden sollten.“
Diesen letzten, äußerst bedeutsamen und folgerichtigen Schritt im politischen Leben Gerlachs zieht Schulte in Zweifel, indem er ihn in eine von Gerlach angeblich beabsichtigte antikommunistische Volksfrontkonzeption umdeutet. Zur Begründung hierfür bringt er ein Sammelsurium zumeist vom Beginn der zwanziger Jahre herrührender antikommunistischer Äußerungen Gerlachs.
Aber bei allen weiterhin vorhandenen Ressentiments Gerlachs gegen die Kommunisten und die Sowjetunion ist das Entscheidende, daß er für die antifaschistische Einheitsfront war. Ja er ging sogar weiter, wenn er in seinem letzten Artikel in der „Neuen Weltbühne“ konstatierte: „Innerhalb dieser Einheitsfront bilden die Kommunisten einen nicht nur besonders eifrigen, sondern auch besonders einsichtsvollen Faktor.“ Schulte zitiert zwar mehrmals aus diesem Beitrag, aber diesen Satz verschweigt er bezeichnenderweise dem Leser.
[1] – Franz Gerrit Schulte: Der Publizist Hellmut von Gerlach (1866-1935), München 1988.
Schlagwörter: Dieter Fricke, Hellmut von Gerlach, Weltbühne

