Der Vorfall selbst war banal und höchstens für eine kurze Meldung in der Lokalpresse geeignet. Sieben Arbeiter aus der Gemeinde Wolkramshausen hatten am 16. April 1913 an einer Kontrollversammlung teilgenommen, zu der sie als Angehörige der Landwehr, das heißt als Reservisten, jährlich verpflichtet waren. Bei der Rückkehr gingen sie in ein Wirtshaus im damaligen Ruxleben, betranken sich und gerieten mit dem Dorfpolizisten und einem Gendarmen aneinander. Als diese sie aus dem Lokal warfen, fühlten sie sich zu Unrecht behandelt und leisteten Widerstand; nicht zuletzt durch den Gendarmen provoziert, der blankgezogen hatte. Alles eigentlich nichts anderes als ein Wirtshausexzeß, der von einem Zivilgericht mit Geldstrafen oder einigen Wochen Gefängnishaft hätte geahndet werden können.
Am Tage der Kontrollversammlung unterstanden jedoch die Landwehrleute für 24 Stunden den Militärstrafgesetzen, und Polizeibeamte zählten zu ihren militärischen Vorgesetzten. Infolgedessen wurde ihnen wegen Zusammenrottung, militärischen Aufruhrs, tätlicher und öffentlicher Beleidigung sowie „Mißhandlung“ der beiden Polizisten vor dem Kriegsgericht in Erfurt der Prozeß gemacht. Er führte am 27. Juni 1913 zur Verurteilung des Arbeiters Moritz See und des Zimmermanns Friedrich Hagemeyer zu je 5 Jahren und drei Monaten und des Knechts Karl Schirmer zu 5 Jahren und zwei Monaten Zuchthaus, während der Bergarbeiter Thilo Kolbe 5 Jahre und drei Monate und der Zimmermann Karl Georges 5 Jahre und sechs Monate Gefängnis erhielten. Relativ glimpflich kamen der Maurer Friedrich Langhelm und der Arbeiter Karl Ropte mit einem Jahr beziehungsweise sieben Monaten Gefängnis davon. Als das Urteil verlesen wurde, brachen viele der anwesenden Verwandten in lautes Weinen aus.
Die reaktionäre bürgerliche Presse begrüßte das Erfurter Urteil und verleumdete einige der Verurteilten als aufrührerische und gewalttätige Menschen, die zudem der Sozialdemokratie nahestünden. Hingegen war ihnen vom Ortsvorsteher von Wolkramshausen vor Gericht ein gutes Leumundszeugnis ausgestellt und bescheinigt worden, daß sie alle „gute Charaktere“ waren, und das Kriegsgericht hatte aus ihrem Bekenntnis zur Arbeiterpartei kein Motiv für ihre unter Alkoholeinfluß begangenen Handlungen nachzuweisen vermocht. Dennoch stand für den „Erfurter Allgemeinen Anzeiger“ mit ihnen „das ganze schamlose, feige und hinterhältige System der Sozialdemokratie“ am Pranger, das „den Arbeiter bis zur Besinnungslosigkeit gegen jede staatliche Autorität aufzuhetzen“ versuche. Das bürgerliche Blatt bedauerte nachträglich, daß Karl Liebknecht 1907 wegen seiner antimilitaristischen Propaganda unter der Jugend in „unbegreiflicher Milde“ nur zu Festungshaft verurteilt worden war.
Terrorurteil und antisozialistische Pressehetze entsprachen dem weiteren Vormarsch der militaristischen, zum Krieg treibenden Kräfte in Deutschland. Ende März 1913 hatte die Regierung im Reichstag eine Militärvorlage eingebracht, die die größte Erhöhung der Friedensstärke des Heeres seit 1871 vorsah und den werktätigen Massen neue finanzielle Lasten aufzubürden drohte. Jahrestage wie das 25jährige Regierungsjubiläum des Kaisers und die Hundertjahrfeiern anläßlich der Befreiungskriege 1813/14 dienten auch dazu, um die – nach Wilhelm II. – angeblich im deutschen Volk vorhandene „freudige“ Bereitschaft „zur Übernahme weiterer persönlicher Opfer nach dem rühmlichen Vorbild unserer Väter“ zu verstärken.
Zu denen, die öffentlich gegen das Erfurter Schreckensurteil protestierten und sich mit den Verurteilten solidarisierten, gehörte auch Carl v. Ossietzky. Seit 1912 waren von dem damals Dreiundzwanzigjährigen in der demokratischen Zeitung „Das freie Volk“ mehrere Artikel „wider den heiligen Mars“ erschienen, in denen er den Militarismus entlarvte und vor der drohenden Gefahr eines Krieges gewarnt hatte. Bereits am 5. Juli 1913 brachte das Blatt einen Beitrag Ossietzkys, in dem er gegen das Urteil schärfstens protestierte. Die Alkoholausschreitungen seien zwar häßlich und nicht zu entschuldigen. „Aber so lange der Saufteufel noch eine Großmacht ist, wird nur eine geschwollene Moral einen Stein auf ein paar arme Kerle werfen, die sich in ihrer Weise einen vergnügten Tag gemacht haben.“
Durch den Vorfall, bei dem es außer der Aufregung keinen Schaden gegeben habe, sei wieder einmal deutlich geworden, daß die militärische Justitia nicht nur verbundene Augen, „sondern auch verstopfte Ohren und ein gepanzertes Herz“ hatte, denn: „Was kann man bei einem bürgerlichen Gericht nicht alles für fünf Jahre Zuchthaus haben! Hunderttausende stehlen, seine Zeit abreißen und nachher als Rentner leben; im Affekt einen Mord begehen, den milde Richter als Totschlag auslegen.“ Der Militärjustiz hingegen wäre eine solche Milde fremd, habe sie doch die Aufgabe, „den ,Untertanen‘ an das Prinzip der Autorität, der unbedingten Disziplin zu erinnern. Sie hat ihm die Grenzen seiner Freiheit zu zeigen“ und ihm bewußtzumachen, „daß es noch Klassen gibt“.
Sicherlich dachte Ossietzky dabei auch an die zahlreichen Fälle von Soldatenschinderei durch militärische Vorgesetzte. Äußerst rohe Mißhandlungen von Untergebenen pflegten die Militärrichter, falls so etwas überhaupt bekannt und nicht vorher mit einem Freispruch wegen angeblichen Mangels an Beweisen beendet wurde, mit einigen Wochen Arrest zu „bestrafen“. Ossietzky schrieb: „Der Vorgesetzte wird gestreichelt, der Untergebene gepeitscht. Das unverfälschte Prinzip der Reaktion, nackter Klassenegoismus!“ Mit bitterer Ironie gestand er den Militärrichtern für ihre Urteile dieselbe Gewissenhaftigkeit zu, „mit der sie an jedem Ersten ihr Gehalt einstreichen. Und nach einem besonders harten Urteil gehen sie ruhig nach Hause, nicht ohne Mitgefühl für den armen Teufel, der das Unglück hatte, in die Klasse hineingeboren zu werden, die nun einmal die Objekte der Gesetzgebung liefern muß.“
Die mutige Attacke gegen den preußisch-deutschen Militarismus trug mit dazu bei, daß die einschlägigen Paragraphen des Militärstrafgesetzbuches geändert und die hohen Zuchthausstrafen in der Berufungsverhandlung vor dem Oberkriegsgericht in Erfurt in jeweils zwei Jahre und ein Monat Gefängnis umgewandelt wurden sowie auch für zwei weitere Angeklagte eine wesentliche Reduzierung der Gefängnisstrafen auf ein Jahr neun Monate bzw. auf vier Monate erfolgte.
Ossietzky aber und der Herausgeber des „Freien Volks“, Heinrich Glaser, wurden auf Veranlassung des preußischen Kriegsministers wegen öffentlicher Beleidigung des Erfurter Kriegsgerichts angeklagt und im Mai 1914 zu einer Geldstrafe von je 200 Mark verurteilt. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, daß der entschiedene Demokrat und Antimilitarist wegen seines unerschrockenen, mutigen Eintretens für eine friedliche, demokratische Zukunft des deutschen Volkes vor den Schranken der Klassenjustiz stand. Als 1931 in der Weltbühne angeblich die Reichswehr beleidigt worden war und Ossietzky als dem verantwortlichen Redakteur deshalb der Prozeß gemacht wurde, bekannte er sich mit den Worten „seit 1912 habe ich den Krieg bekämpft“ stolz zu seinem bis in die Zeit des Erfurter Urteils reichenden Engagement für den Frieden.
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