28. Jahrgang | Nummer 20 | 17. November 2025

Spurensuche nach dem „Dekameron“-Autor

von Manfred Orlick

Giovanni Boccaccio (1313-1375) gilt zusammen mit Dante Alighieri (1265-1321) und Francesco Petrarca (1304-1374) als ein Wegbereiter der modernen italienischen Literatur. Die drei „Kronen von Florenz“ standen als geistige Väter der Renaissance im Zentrum der italienischen Kultur im 14. Jahrhundert. Mit seiner berühmten Novellensammlung „Il Decamerone“, dem ersten großen Prosawerk italienischer Sprache, übte Boccaccio einen enormen Einfluss auf die prosaische Erzähltradition in ganz Europa aus.

Während Boccaccios Werk, insbesondere sein Hauptwerk, bekannt ist, wissen wir nur wenig über sein Leben, da es wie bei vielen europäischen Dichtern des Mittelalters und der Renaissance an verlässlichen historischen und autobiografischen Dokumenten mangelt. Am 21. Dezember 2025 wird sein 650. Todestag begangen. Aus diesem Anlass hat die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Franziska Meier eine umfangreiche Biografie unter dem Titel „Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten” vorgelegt. Zunächst gibt sie einen Überblick über die Materialien und persönlichen Quellen zu Boccaccios Leben. Neben gut zwei Dutzend Briefen (zumeist in nachträglichen Abschriften) finden sich nur vereinzelte Selbstaussagen in seinem umfangreichen Werk, dazu noch existierende Florentiner Akten aus dieser Zeit.

Trotz der intensiven Forschung in den letzten Jahrzehnten gleicht „die Biographie Boccaccios einem großen Fresko, in dem ganze Teile fehlen“, so die Autorin. Sie versucht dennoch mit akribischer Rekonstruktion, ein Lebensbild von Boccaccio in drei Teilen (Lebensabschnitten) und fünfzehn Kapiteln zu entwerfen. Über seine Herkunft, seine Kindheits- und Jugendjahre geben die Quellen in punkto Jahreszahlen mehr oder weniger widersprüchlich Auskunft. Boccaccio hat sich dazu kaum geäußert. Selbst sein genaues Geburtsjahr und sein Geburtsort sind von Dunkel umhüllt. Als unehelicher Sohn eines Florentiner Kaufmanns und einer adeligen Französin verbrachte Boccaccio seine Kindheit in Florenz, zu einer Zeit, als in der Stadt eine große Hungersnot ausbrach.

Auf Wunsch des Vaters ging Boccaccio um 1327 nach Neapel in die Lehre bei einem angesehenen Handelsherrn; danach studierte er die Rechte und beschäftigte sich mit der Antike. Nach sechs Jahren brach er das Studium aber ab, um sich stattdessen intensiv mit der Literatur zu beschäftigen. Starkes Interesse zeigte er vor allem an den lateinischen Klassikern und der volkssprachlichen Literatur. Seine Zeit in Neapel war entscheidend für seine literarische Entwicklung, da er dort auch den Königshof von Robert von Anjou kennenlernte und seine dichterische Laufbahn begann.

Mit 27 Jahren kehrte Boccaccio in das von Krisen geschüttelte Florenz zurück, wo er in den folgenden Jahren mehrfach von der Stadt mit diplomatischen Missionen betraut wurde. Die Biografin beleuchtet hier die neuen politischen Verhältnisse in Florenz, als es zu sozialen Unruhen kam und der Schwarze Tod, dessen Augenzeuge Boccaccio wahrscheinlich wurde, die Bevölkerung dezimierte. In diesen Jahren entstand sein Prosaroman „Elegia di Madonna Fiammetta“ (dt. „Die Klage der Madonna Fiammetta“), der ein beeindruckender Monolog einer verlassenen Frau über Gefühle, Liebe und Verlangen ist. Es folgten Aufenthalte in Ravenna und Forli. In Ravenna lernte er die letzten Vertreter einer Dichterschule kennen, die sich hier um Dante versammelt hatte.

Kurz nach der Pestepidemie verfasste Boccaccio sein Hauptwerk. Wie lange er am „Il Decamerone“ gearbeitet hat, wissen wir nicht – vermutlich zwischen 1348 und 1360. Um der Pest zu entkommen, zieht sich eine kleine Gesellschaft von sieben Frauen und drei Männern zehn Tage lang in ein Landhaus in den Hügeln von Florenz zurück und unterhält sich gegenseitig mit insgesamt 100 Geschichten. Hier entwickelte Boccaccio, wie Meier ausführt, die mittelalterliche Erzähltradition durch realistische und lebensnahe Schilderungen sowie durch eine volkstümliche Sprache weiter zur neuzeitlichen Novellistik.

Anfang Oktober 1350 kam es in Florenz zu einer ersten Begegnung mit Petrarca, woraus sich enge Freundschaft und gegenseitige Besuche entwickelten. Die Jahre von 1351 bis 1354 waren Jahre des Engagements, in denen Boccaccio als Gesandter der Stadt Florenz auftrat (unter anderem bei der Kurie in Avignon und in Rom). Nach 1360 zog sich Boccaccio immer wieder in die Abgeschiedenheit von Certaldo, dem Dorf seiner Vorfahren bei Florenz, zurück, wo er auch seine letzten Lebensjahre verbrachte. Erst 1373, zwei Jahre vor seinem Tod, durfte er in seiner Heimatstadt in mehreren öffentlichen Vorträgen die „Göttliche Komödie“ von Dante auslegen. In der Mitte der 1360er Jahre traten gesundheitliche Probleme und erhebliche Einschränkungen auf. Boccaccio verstarb am 21. Dezember 1375 in Certaldo.

In einem Interview betonte Meier die doppelte Bedeutung ihres Untertitels „Dichter in schwarzen Zeiten“, der sich nicht nur auf die Pest bezieht, sondern auf das ganze 14. Jahrhundert, in dem sich die Katastrophen in Europa nur so aneinanderreihten. So wird Boccaccios Leben und Werk stets in die geschichtlichen Ereignisse und das gesellschaftliche Umfeld eingebettet. Damit zeichnet die Biografin ein eindrucksvolles Bild des berühmten Dichters und seiner Zeit im ausgehenden Mittelalter. Insgesamt bietet die Neuerscheinung, ergänzt durch einige historische Abbildungen und eine Zeittafel, eine sprachlich flüssige und äußerst interessante Lektüre, die sowohl für Literaturwissenschaftler als auch für literarisch Interessierte, die sich näher mit Boccaccios Werk befassen möchten, von großem Nutzen ist.

Franziska Meier: Giovanni Boccaccio – Dichter in schwarzen Zeiten – Eine Biographie, Verlag C.H. Beck, München 2025, 416 Seiten, 32,00 Euro.