Mit der Industrialisierung wuchsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland die Städte zu bislang ungeahnter Größe. Sie verloren den überschaubaren Charakter geographisch und sozial begrenzter Gebiete und entwickelten eine Infrastruktur, die Arbeit, Wohnung und Vergnügen in einem sich schnell wandelnden Kosmos verband. In Berlin entstehen riesige Wohnblocks mit Hinterhäusern und dunklen Innenhöfen, gigantische Fabrikkomplexe, daneben Theater und Varietés. Das Café mit seiner „Atmosphäre von Mokkaduft, Cigarettenrauch, mondäner Gesellschaft und Zeitungslektüre“ – so Ferdinand Hardekopf 1899 – wird für die bürgerliche Mittelschicht zum kaum zu entbehrenden zweiten Wohnzimmer.
Zugleich wächst die Sehnsucht nach dem Leben auf dem Lande. Kleinbürger mit ihren Familien, Angestellte und junge Leute unternehmen am Sonntag Ausflüge zum Grunewald oder zum Wannsee, man kommt mit dem Fahrrad oder nimmt den Vorortzug, bringt Butterstullen mit fürs Picknick unter den Bäumen oder man genehmigt sich eine Segel- oder eine Kahnpartie. Es entstehen Strandbäder mit Umkleidehäuschen, hölzernen Stegen und Badeaufsicht. Wer es sich leisten kann, lässt sich ein privates Landhaus bauen: Ab den Gründerjahren verlegen viele wohlhabende Berliner Familien ihren Wohnsitz ins Grüne. Rund um den Wannsee entstehen stattliche Villen, teils als Sommerresidenzen, teils als dauerhafte Wohnsitze. Das Verhältnis von Stadt und Land wird neu austariert.
Auch in der Kunst spiegelt sich diese Entwicklung. Maler entdecken die Stadtlandschaft als Motiv, stellen Menschen im Café, in der Theaterloge oder auf dem Rummelplatz dar. Manche wiederum kehren der Stadt mit ihrem Lärm und ihrer Hektik den Rücken und lassen sich im Umland nieder – Max Liebermann, erster Präsident der Berliner Secession, der seine Villa am Wannsee und ihren Garten über Jahre hinweg immer wieder malt und zeichnet, ist nur das bekannteste Beispiel. Es entstehen impressionistische Landschaftsbilder, die es mit den französischen Vorbildern durchaus aufnehmen können.
Das Bröhan-Museum in Charlottenburg, spezialisiert auf Jugendstil, Art Déco und die Kunst der Berliner Secession, hat sich dieses Themas angenommen und zeigt noch bis zum 22. Februar 2026 in einer Sonderausstellung, wie urbanes Leben und ländliche Idylle vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die spannungsgeladenen 1920er Jahre von der Kunst ins Bild gesetzt wurden.
Da hängt Franz Heckendorfs „Blick auf den Belle-Alliance-Platz vom Halleschen Tor aus“, um 1910 entstanden, neben Hans Baluscheks „Rummelplatz“ von 1914; man beobachtet Willy Jaeckels „Frauen im Café“ und spielende Kinder bei Erich Büttners „Sonntagsspaziergang im Kleistpark“. Neben Hans Baluscheks um 1900 entstandenes Gemälde einer Frau in einer tristen „Berliner Landschaft“ zwischen Hinterhöfen und S-Bahn-Bögen tritt Heinrich Zilles etwa zur selben Zeit aufgenommenes Foto einer Frau „Vor dem Polizeipräsidium“, vor dem auch Schutthügel liegen.
Die Schönheit der märkischen Landschaft ist in den Bildern von Walter Leistikow eingefangen („Märkischer Waldsee mit zwei Birken“, „Löcknitz bei Berlin“), die flirrende Luft über dem Wasser hat Karl Hagemeister festgehalten („Schwertlilien am See“); sein farbenprächtiger „Teich in der Mark“ kann sich durchaus neben den früheren Seerosenbildern von Claude Monet aus Giverny sehen lassen und seine „Felsige Küste mit Buche“ von 1913 weist mit ihrer grellen Farbigkeit fast schon in die Richtung expressionistischer Abstraktion. Auf der gleichen Linie liegt der Wandteppich „Streichende Schwäne“, der 1898 nach einem Entwurf von Walter Leistikow entstanden ist. Und die Bilder von Landhäusern und ihren Gärten wie Bruno Krauskopfs „Hausgarten des Künstlers am Scharmützelsee“ von 1932 bieten allein vom Sujet her eine grandiose Farbenpracht.
Besonders beeindruckt hat mich allerdings Willy Römers auf Wandgröße reproduzierte Schwarz-Weiß-Fotografie „Sonntag im Grunewald“ aus dem Jahre 1912: Da sitzen Familien im Abstand von wenigen Metern im Gras zwischen den Bäumen, Männer und Frauen mit Hüten, einige haben Sonnenschirme aufgespannt. Von einem neuen Verhältnis zu Körper und Natur, wie es die Lebensreformbewegung propagiert hat, kann hier noch keine Rede sein. Das Freiluftbaden wird erst später zu einem festen Bestandteil städtischer Freizeitkultur.
Die Ausstellung, deren Plakat vertikal in zwei Hälften geteilt ist, spiegelt die Veränderung wider vom vorindustriellen Berlin (mit einem Foto von Zilles Stammlokal „Zum Nußbaum“ in Alt-Cölln vertreten) bis zur Lichterstadt der Zwanziger Jahre und zum ländlichen Sehnsuchtsort – gerade das macht sie so interessant. Noch drei Monate besteht Gelegenheit, sie zu besuchen.
Havelluft und Großstadtlichter. Ausstellung im Bröhan-Museum, Schloßstraße 1a, 14059 Berlin: Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen 11-18 Uhr (24. und 31.12. geschlossen) noch bis zum 22. Februar 2026; Eintritt 9 Euro (ermäßigt 6 Euro). Leider gibt es keinen Katalog.
Schlagwörter: Bröhan-Museum, Hermann-Peter Eberlein, Stadtlandschaften


