28. Jahrgang | Nummer 20 | 17. November 2025

Durch Franken (IV) – über Bürgstadt nach Aschaffenburg

von Alfons Markuske, notiert in Marktheidenfeld

Vorletzte Etappe – nach Bürgstadt, 55 Kilometer.

Zwischen Homburg und Urphar, beiderseits des Radweges, ein langer, breiter Streifen unberührter Wiese. Zahlreiche blühende Wildblumen fordern zum Botanisieren auf. Dank Google Lens sind Rosen-Malve, Sternblume, Storchschnabel, Mauretanische Malve und andere rasch „identifiziert“.

Als Genussradler sind wir ja schon vom Begriff her jeglicher besonders rascher, womöglich gar schweißtreibender Fortbewegung abhold, doch Fußgänger, Jogger und die spärliche Mainschifffahrt lassen wir noch allemal lässig hinter uns.

Entlang des meist asphaltierten Radweges immer mal wieder kürzlich gemähte Wiesen, und in der Luft dann – ein irrer Duft von frischem Heu. Doch den gibt es Gott sei Dank auch anderswo, so dass Rudi Strahl zur Zeit der deutschen Teilung die Inspiration zum Titel seiner gleichnamigen Komödie auch östlich der Elbe finden konnte.

Die ursprünglich staufische Wehranlage der Burg Wertheim wurde seit Baubeginn im 12. Jahrhundert stetig erweitert. 1619 zerstörte eine große Pulverexplosion große Teile der Mauern. Nach einem Rundgang durch die Ruine gönnen wir uns vom Bergfried aus einen wunderbaren Blick auf die Main-Tauber-Landschaft.

Markt Bürgstadt liegt an der Einmündung der Erf in den Main. Auf der Homepage des Ortes heißt es: „Die lebhafte Winzergemeinde ist offizieller Bayerischer Genussort. Das bedeutet, das gepflegte Ortsbild, die liebliche landschaftliche Einbettung Bürgstadts, seine ausgeprägte Weinkultur und das enge Netzwerk von Erzeugern regionaler kulinarischer Genüsse mit der Bürgstädter Gastronomie, sind ein großes Ganzes.“

Das können wir von unserer Stippvisite durchaus bestätigen. So idyllisch war es hier allerdings nicht immer: Von 1616 bis 1618 und 1627 bis 1630 kam es in Bürgstadt zu Hexenverfolgungen, denen 91 Menschen zum Opfer fielen. Das bedeutete damals, so man nicht schon bei der kirchenamtlichen sogenannten hochnotpeinlichen Befragung (sprich – Tortur, besser: Folter) zu Beginn des Verfahrens den Geist aufgab, in der Regel Tod auf dem Scheiterhaufen. Wobei das Verbrennen bei lebendigem Leibe als besonders christlich galt: Hatten die Betroffenen doch dadurch bis zum letzten Augenblick die Chance, durch Reuebekenntnis ihr Seelenheil und damit den Eingang ins Paradies zurückzugewinnen.

Einer der Hexenrichter, Centgraf Leonhard Gackstadt, stiftete 1628 einen neuen Hochaltar für die Martinskapelle – urkundlich erstmals erwähnt im Jahre 1247, gilt sie als eine der ältesten Kirchen Frankens. Und ist durch die Wand- und Deckenmalereien im Innern nun wirklich ein Kleinod: In einer sogenannten Bilderbibel sind in 40 Medaillons Episoden aus dem Alten und Neuen Testament dargestellt. – Auch das Renaissance-Rathaus des Ortes ist sehr gut erhalten und dem Auge des Betrachters ein Wohlgefallen.

Der Keller, auf dem das Hotel Stern, in dem wir Quartier nehmen, ruht, datiert nach Auskunft der Hotelchefin auf das Jahr 1524. Das Fachwerkgebäude darüber ist 100 Jahre jünger. Doch die Hotelausstattung entspricht heutigen Erwartungen – allerdings mit so komfortablen Zimmergrößen, dass Nutzer von IBIS-Hotels und ähnlichen Hutschachteln davon nicht zu träumen wagten.

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Letzter Abschnitt – nach Aschaffenburg, 65 Kilometer.

Bis 1200 vor Christus zurück reichen die archäologisch nachgewiesenen Siedlungsspuren auf dem Greinberg, auf dem sich das malerische Fachwerkstädtchen Miltenberg – geteilt durch eine Schleife des Mains – erstreckt. Der Marktplatz sieht nicht nur aus wie eine mittelalterliche Filmkulisse, er diente auch wiederholt als eine solche. Etwa für die Eingangsszenen von „Das Wirtshaus im Spessart“ (1958) und „Das Spukschloss im Spessart“ (1960), Komödien, die seinerzeit in Westdeutschland Zuschauerzahlen erreichten, die heute in die Rubrik Blockbuster fielen.

An einem schattigen Plätzchen auf dem Markt erwartet die Vorübergehenden oder die einen Platz in einem der Cafés Suchenden einer der überregional eher unbekannten Söhne Miltenbergs. In Lebensgröße und in Bronze, gestützt auf eine Stele aus landschaftstypischem rotem Sandstein, auf der eine Inschrift informiert: Josef Martin Kraus, geboren 1756 in Miltenberg, gestorben 1792 in Stockholm, „wo er als Kapellmeister am Hof König Gustavs III. großen Ruhm erntete“.

Vor der Kirche Sankt Jakobus hockt auf einer Säule, ebenfalls aus rotem Sandstein, ein Pilger in höchst altertümlicher Tracht, und die Inschrift über und unter einer eingravierten Jakobsmuschel lautet: „Im Aufbruch – Santiago de Compostela, 2577 km“.

Dass der Zeitgeist in Miltenberg womöglich keinen leichten Stand hat, könnte man aus einer Mitteilung schließen, die sich an einem der Fachwerkhäuser findet, in Frakturschrift und in einer Höhe, die eine Kommentierung via Farbspraydose verunmöglicht: „Mit Fleisches Kraft / ein jeder schafft, / glaubt er auch schon, / es sei vorbei, / wirkt Fleisch und Wurst / wie Zauberei.“ Und unweit des Marktes, in einer der pittoresken Gassen, laden ebenso bar- wie prallbrüstige Pin-up-Girls in den Fenstern von „Guntram’s Malerarche. Zentrum der Mal- und Zeichenkunst von Miltenberg“ zum Eintritt. Derart voyeuristischer Sexismus wirkt denn doch ein wenig aus der Mode gekommen.

Auf dem träge fließenden, seichten Main wurden früher kleine Frachtschiffe vom Ufer aus mit Zugtieren, vor allem Pferden mainaufwärts gezogen; der Fachausdruck dafür lautet treideln. Als dies durch die Konkurrenz der Eisenbahn zusehends unrentabel wurde, mussten neue Antriebstechniken gefunden werden. Raddampfschlepper konnten in dem zum Teil nur 80 Zentimeter tiefen Fahrwasser nicht eingesetzt werden. Welche andere Lösung gefunden wurde, darüber wird man beim Schifffahrts- und Schiffbaumuseum in Wörth informiert: Der Mainzer Speditionsunternehmer Heino Held hatte die Idee zur Kettenschlepp-Schifffahrt. Ein dampfbetriebenes Schiff – genannt Määkuh (umgangssprachlich für „Main-Kuh“), das eine im Main verlegte Eisenkette aufnahm, über eine Antriebswelle leitete und schließlich wieder in den Fluss ablegte, treidelt mit viel Getöse und Geklapper bis zu fünf Frachtschiffe flussaufwärts. Der Betriebsstart erfolgte 1886. Die Kette wurde mehrfach verlängert und reichte schließlich bis Bamberg. Die Määkuh-Ära währte bis 1935.

Aschaffenburg, das „Tor zum Spessart“, wurde im fünften Jahrhundert an einer Main-Furt, vulgo an strategisch wichtigem Platze, von den Alemannen gegründet. Ihnen nach folgten die Franken. Im Jahre 962 gelangte die Stadt zum Kurfürstentum Mainz, avancierte zur Zweitresidenz und wurde 1814 schließlich, durch den Wiener Kongress, Bayern zugeschlagen.

Die Altstadt, das sich ganz in rotem Sandstein präsentierende barocke, das heißt üppige Schloss wie das im Schlossgarten gelegene Pompejanum (ein durch Bayernkönig Ludwig I. initiierter, von den damaligen Ausgrabungen in Pompeji inspirierter Nachbau einer römischen Villa) erfreuen heute Einwohner wie Gäste der Stadt. Nach fast völliger Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und anschließendem Wiederaufbau.

Auf dem parkähnlichen Grünstreifen zwischen Weißenburger und Friedrichstraße erinnert ein Denkmal an die, laut Inschrift, 16 Millionen deutschen Vertriebenen, deren vorherige Heimatregionen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges an andere Staaten übergingen. Eine historische Einordnung nimmt das Denkmal nicht vor; das war in der westdeutschen Erinnerungskultur jahrzehntelang unüblich. Für die Betroffenen war die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg individuell zweifelsohne ein unbarmherziges Schicksal. Allerdings wiederum nicht ganz so unbarmherzig wie allein für jene 27 Millionen Sowjetbürger zahlreicher Nationalitäten, die den am 22. Juni 1941 von Nazi-Deutschland und seiner Koalition der Willigen vom Zaun gebrochenen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR gar nicht erst überlebt hatten. Beteiligt waren mit Streitkräfteformationen Finnland, Italien, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Ungarn.

Eine Entdeckung in der Stiftskirche St. Peter und Alexander: In einem predella-ähnlichen Format ein Gemälde von Matthias Grünewald, dem Schöpfer des Isenheimer Altars (heute in brillant restauriertem Zustand zu bestaunen im Musée Unterlinden im elsässischen Colmar), des grandiosesten Renaissance-Altars nördlich der Alpen. Leider hängt das Gemälde in einem so dunklen Bereich des Gotteshauses, dass kaum etwas zu erkennen ist.

Grünewald war Hofmaler Kardinal Albrechts von Brandenburg, der in Halle an der Saale residierte, von wo er nach Aschaffenburg „emigrierte“, nachdem in Halle die Luther’sche Reformation gesiegt hatte. (Auch Grünewald wirkte zeitweise in Aschaffenburg.) Für die Reformation war Albrecht mit seinem Ablasshandel, gegen den sich Luthers Fronde richtete, bekanntlich einer der maßgeblichen Auslöser. Folgerichtig wurde der Kardinal zum militantesten Gegenspieler Luthers und von dessen Parteigängern.

Zugleich aber war auch der Kardinal ein Mensch von Fleisch und Blut, wofür sich in der Aschaffenburger Stiftskirche ein hübscher Beleg findet – ein Epitaph für Agnes Pless, Metzgerstochter aus Frankfurt am Main und Albrechts langjährige Mätresse. Die brachte er aus Halle mit, wo sie am Alten Markt im Haus „Zum grünen Hof“ ihr prunkvolles Domizil hatte, und sorgte auch am neuen Ort in der „Kleinen Webergasse“ wieder für ein standesgemäßes Eigenheim.

Agnes mätressierte im Übrigen nicht im Verborgenen. Sie begleitete ihren Kardinal, der ein einnehmender Familienmensch gewesen sein soll, vielmehr zu Reichstagen und nahm sich auch seiner Tochter Anna an, dem Kind aus der vorangegangenen Liaison mit Elisabeth Schütz von Holzhausen.

Das Geschmäckle dabei liegt natürlich auf der Hand: Seit dem zweiten Lateran-Konzil von 1139 galt für katholisch geweihte Kleriker der Zölibat, das strikte Gebot der Ehelosigkeit und sexuellen Enthaltsamkeit. Doch es war wie zu allen Zeiten davor und danach – Regeln und Gesetze verfügte die Obrigkeit prioritär nie, um sich selbst daran zu halten.

Schluss.

Die bisherigen Notizen dieser Radreise von Bamberg nach Aschaffenburg sind in den Blättchen-Ausgaben 17/2025, 18/2025 und 19/2025 erschienen.