Anfangs sollte es nur ein Erholungsurlaub werden. Doch nach einigen Wochen war klar, dass Thomas Mann und seine Familie vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren würden …
Zumeist werden die wenigen, von den Manns an der Côte d’Azur verbrachten Monate des Jahres 1933 in den Lebensbeschreibungen übergangen, so auch von Tilmann Lahme in seiner großen und ansonsten nicht hoch genug zu lobenden Biographie. Er schreibt: „Im Sommer ist die gesamte Familie an der französischen Mittelmeerküste versammelt. Bizarr erscheint die Mischung aus lichtblauer Heiterkeit und politischer Düsternis. Die Emigration sammelt sich. Thomas Mann sucht Abstand und seine eigene Rolle. Politisch schweigt er und wird weiter schweigen.“
Mehr lässt sich dazu nicht sagen? Warum und wie kamen die Manns eigentlich nach Südfrankreich? Florian Illies hat sich in seinem jüngsten Buch diesen Fragen angenommen und erzählt in bekannter, atmosphärisch dichter Manier nicht nur die Geschichte der Familie Mann, sondern auch die anderer, in der „Hauptstadt der deutschen Literatur“ (Ludwig Marcuse) gestrandeter Exilanten, wie Lion und Marta Feuchtwanger, Arnold und Beatrice Zweig sowie René Schickele, Sybille Bedford und Eva Hermann.
Die Geschichte beginnt am 11. Februar 1933. Am Nachmittag desselben Tages steigen Thomas und Katia Mann in den Zug, der sie von München nach Amsterdam bringen wird. Zwei Tage darauf hält Thomas Mann aus Anlass des fünfzigsten Todestages im Saal des Concertgebouw seinen Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“. Weiter geht es nach Brüssel und anschließend nach Paris, wo er ebenfalls zu diesem Thema spricht.
Am 22. Februar kreuzen sich in Paris die Wege von Thomas und Heinrich Mann, der tags zuvor aus Berlin gekommen ist. Im Gegensatz zu seinem Bruder erscheint Heinrich eine Rückkehr nach Deutschland lebensbedrohlich und undenkbar. Eine Woche später verlässt er die französische Hauptstadt und reist nach Toulon. Von dort wechselt er nach Nizza und Mitte Mai schließlich nach Bandol, in die Nähe seines Bruders. Der Haß – so wird das Buch heißen, das er in diesem Sommer schreibt. Es ist Heinrich Manns Abrechnung mit Deutschland.
Thomas und Katia Mann treffen am 24. Februar in Arosa ein. Drei Wochen lang wollen sie sich hier erholen und dann nach München zurückkehren. Was die Befindlichkeit von Thomas Mann in diesen Tagen betrifft, so erfährt man dazu einiges aus dem jüngst von Holger Pils in einer mustergültigen Edition vorgelegten Briefwechsel mit Ida Herz. Die Nürnberger Buchhändlerin gehörte nicht nur zu den treuesten Leserinnen, ihre Sammlung von Dokumenten von und über Thomas Mann sollte zu einer wichtigen Grundlage des 1956 gegründeten Thomas-Mann-Archivs an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich werden.
Kurz nach der Ankunft schreibt er an sie: „Jede Sorge um die ,bürgerliche Kultur‘ ist läppisch, wenn es wie jetzt zum Aeußersten kommen soll.“ Und am 10. März 1933 heißt es: „Ich muß, wie die Dinge sich von Tag zu Tag entwickeln, meine Lage als physisch bedroht ansehen. […] der Gedanke eines vollständigen Umsturzes meiner Existenz, die Vorstellung ins Exil gehen zu müssen, […] hält mich in ununterbrochener Erregung und Erschütterung.“ Woraufhin Ida Herz antwortet: „Denn lange, sehr lange kann dieser ,Machtrausch‘ doch nicht dauern, […] aber, der arge Druck, die furchtbare geistige Vergewaltigung – ich fürchte – die wird dauern.“
Vom 17. bis zum 24. März logieren die Manns in Lenzerheide im Chalet Canols. Das Häuschen gehört einer Freundin von Erika und Klaus Mann und ist, wie Thomas festhält, „von einer komfortablen Primitivität wie ich sie gern habe“. Von dort geht es über Montagnola, wo man sich mit Hermann Hesse trifft, weiter nach Lugano. Mit Blick auf die Zustände in Deutschland schreibt Thomas Mann am 1. April 1933 in einem etwas weltfremden Ton an Ida Herz: „Es herrscht da eine gewisse liebenswürdige Willkür, die fast etwas Übermütiges, genial Spielerisches hat […].“ Ende des Monats fahren Thomas und Katia Mann mit den inzwischen bei ihnen eingetroffenen Kindern Golo, Elisabeth und Michael über Zürich nach Basel. Ida Herz kann in diesen Tagen lesen: „Das Unsinnige und Schwere unserer Lage droht manchmal meine Nerven zu überwältigen.“
In der Zwischenzeit schauen sich Klaus und Erika Mann nach einer Unterkunft für die Familie an der Côte d’Azur um. Sie selbst sind vorerst im Hotel „Les Roches Fleuries“ in Le Lavandou untergekommen. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sie ihr Weg im Zusammenhang mit der Arbeit an ihrem Alternativ-Reiseführer Das Buch von der Riviera dorthin geführt. Als die Eltern am 6. Mai in Le Lavandou eintreffen, hat sich noch nichts Passendes gefunden. Vier Tage später beziehen Katia und Thomas Mann, der, wie er seinem Tagebuch anvertraut, „in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter [s]einem Lebensniveau“ findet, bis auf weiteres ein Zimmer im Grand Hôtel im gut 60 Kilometer westlich gelegenen Bandol. Von dort schreibt er an Ida Herz: „Dies improvisierte Leben setzt sich nun vorläufig so fort. Es ist, wenn ich’s überschlage, der elfte Aufenthalt dieser ahnungslos angetretenen ,Reise‘.“
Die zwölfte und vorerst letzte Station wird das nur wenige Kilometer von Bandol entfernte Sanary-sur-Mer, von Klaus und Erika in ihrem Buch von der Riviera als der „sommerliche Treffpunkt der pariserisch-berlinisch-schwabingerischen Malerwelt“ beschrieben. Durch die Vermittlung einer guten Bekannten findet sich Ende Mai 1933 in dem kleinen, kaum 3.000 Einwohner zählenden Ort endlich ein allen Ansprüchen genügendes Haus. Am 9. Juni, drei Tage vor ihrem Umzug, schreibt Thomas Mann an Ida Herz: „In wenigen Tagen […] werden wir das hübsche kleine Haus beziehen, das wir für ein paar Monate gemietet haben, bei Sanary, nicht weit von hier. Es heißt La Tranquille [was sich mit „Die Ruhige“ übersetzen lässt – M.I.], erfreulicherweise mit Recht. Es ist sehr angenehm ausgestattet, nur ein bißchen eng für uns alle, und Golo muß für die Dauer seines Hierseins ein eigenes Pensionszimmer nehmen.“ Und in seinem Tagebuch hält er am Tag des Einzugs fest: „Ich glaube, daß wir in diesem Hause glücklich sein werden.“ Was für ihn bedeutet: Endlich kann er wieder schreiben und die Arbeit an seinem Roman Joseph und seine Brüder fortsetzen.
Nur gut drei Monate, bis zu ihrer Übersiedelung in die Schweiz, wohnen die Manns in der hoch über der Bucht von Sanary gelegenen Villa, die am 15. März 1944 von den deutschen Besatzungstruppen zerstört wird. Zwar wird das Haus nach dem Krieg wieder aufgebaut, doch aktuell sind Umbauarbeiten im Gange, die das ursprüngliche Aussehen von La Tranquille nur noch erahnen lassen. Dennoch lohnt sich ein Besuch in Sanary. Auf dem fast 20 Stationen umfassenden „Parcours de mémoire“ kann man unter anderem einen Blick auf die ehemaligen Wohnstätten von Franz Werfel, Friedrich Wolf, Bruno Frank, Ludwig Marcuse, Franz Hessel oder auch Alfred Kantorowicz werfen. Und nicht vergessen: Das Buch von Florian Illies sollte unbedingt ins Reisegepäck.
Florian Illies: Wenn die Sonne untergeht – Familie Mann in Sanary, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 326 Seiten, 26,00 Euro.
Thomas Mann und Katia Mann: „Liebes Fräulein Herz“. Briefwechsel mit Ida Herz 1924–1955, herausgegeben von Holger Pils, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 590 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Exil 1933, Florian Illes, Holger Pils, Ida Herz, Mathias Iven, Sanary-sur-Mer, Thomas Mann


