28. Jahrgang | Nummer 21 | 1. Dezember 2025

Cold Cases

von Jutta Grieser

Gegenüber Amerikanismen, mit denen jeder Saftladen zum Juice Shop erklärt und selbst in der abgelegensten Provinz Weltläufigkeit demonstriert werden soll, hege ich zugegeben eine Aversion. Fuck AfD und Good Night Left Side … Ein Idiom aus Übersee jedoch akzeptiere ich: Cold Case. Damit werden ungelöste Kriminalfälle bezeichnet. Die Ermittlungsbehörden schließen irgendwann ergebnislos die Akten, die Täter bleiben unerkannt und kommen also ungeschoren davon. Die FAZ meldete im Juli, dass es in Deutschland etwa dreitausend ungeklärte Mordfälle gebe, also offene Gewaltverbrechen. Cold Case – das klingt melodisch und nicht so hart wie auf Deutsch.

Michael Schmidt, ein ehemaliger NDR-Fernsehjournalist, sitzt seit einem Vierteljahrhundert an so einem Altfall. Im März 1999 sank auf der Ostsee, auf halbem Wege zwischen Rügen und Bornholm, die „Beluga“, drei Fischer starben. Die Ermittlungsbehörden kamen ziemlich rasch zu dem Urteil, die Besatzung des Schiffes sei an ihrem Untergang selbst schuld gewesen. Fahrlässigkeit, mangelnde Sorgfalt bei den Sicherheitsvorkehrungen und dergleichen mehr führte man zur Begründung an, und schloss alsbald die Akten.

Schmidt hat die Ermittlungen von Anbeginn kritisch mit der Kamera begleitet und wiederholt dazu publiziert, am 9. November stellte er sein jüngstes Buch in Berlin-Adlershof vor, an seiner früheren Wirkungsstätte, wo er am 31. Dezember 1991 die letzte Schicht fuhr, bis die Lichter des Deutschen Fernsehfunks ausgingen. Viele kamen jetzt ins „Theater Ost“ im alten Gemäuer, als der Rostocker über den „Cold Case auf der Ostsee“ sprach. Denn für ihn und andere ist der Fall nach wie vor ungelöst.

Die kriminalistischen, juristischen und journalistischen Untersuchungen – nationale wie internationale –, die die Umstände des Unglücks aufklären sollten, liefen ins Leere. Und wie sie dies taten, nährte gewisse Vermutungen – angefangen von mangelnder Professionalität und eingeschränktem Eifer der Ermittler bis zu kollektivem Korpsgeist, der bekanntlich selbst Krähen daran hindert, sich gegenseitig die Augen auszuhacken. Zudem drängte sich auch der Verdacht auf, dass Institutionen ihre Finger im Spiel gehabt haben könnten, die gemeinhin im Geheimen ihr Tag- und Nachtwerk verrichten und auf Vertuschung trainiert sind. Es verschwanden einfach zu viele elektronische Aufzeichnungen, die es angeblich nie gegeben hatte oder die gelöscht worden waren.

Alles deutet darauf hin, dass die drei Fischer an Bord bei ihrer nächtlichen Überfahrt von Sassnitz nach Rönne in ein NATO-Manöver geraten waren, das aber laut nautischen Mitteilungen schon längst hätte beendet sein müssen. Ihr Schiff wurde morgens gegen 3 Uhr – vermutlich von einer nicht erkannten oder markierten Trosse – binnen sechzig bis neunzig Sekunden unter Wasser gedrückt. Mit solchen mitunter mehrere hundert Meter langen Stahltrossen, gespannt von Bug zu Bug, bringt die Marine Seeminen zur Detonation oder pflügt absichtsvoll kleine Boote unter, die Seeblockaden in Krisen- und Kriegsgebieten durchbrechen wollen. Der Untergang der „Beluga“ wäre, sofern diese Annahme zutrifft, nach militärischer Lesart also ein Kollateralschaden. Und da sechs Tage später der NATO-Krieg mit deutscher Beteiligung gegen Jugoslawien an der Adria begann und hier ein Training für diesen Einsatz vermutet wird, könnte man die drei Seeleute, die am 18. März 1999 in der Ostsee starben, in gewisser Weise als die ersten Opfer dieses NATO-Krieges bezeichnen. Aber: Die Marine mauerte, die Hardthöhe schwieg, die ermittelnden Bundesbehörden unterstellten den Fischern subjektives Versagen und schlossen die Akten. Sie beschädigten den Ruf dieser Seeleute, verweigerten den Angehörigen die Auskunft, wie und wodurch die „Beluga“ tatsächlich sank, und versagten damit allen den nötigen Respekt. Drei ostdeutsche Fischer, so what

Eine Woche vor der Buchvorstellung hatte an gleicher Stelle eine „Konferenz zur Rettung des Theaters Ost“ getagt. Die ungewöhnliche Kultureinrichtung arbeitet in dem Gebäude, das 1952 als Fernsehtheater errichtet worden war. Später sendete von hier die Aktuelle Kamera – Schmidt war bei der AK II.

Mit Idealismus und Engagement betreiben seit einem Jahrzehnt drei Dutzend Ehrenamtliche mit der Intendantin Kathrin Schülein ein vielseitiges und anspruchsvolles Theater-Programm. Doch nun hieß es Land unter: Der Vermieter aus dem Westteil der Stadt kam seinen Verpflichtungen zur Erhaltung der Mietsache nicht nach und meinte sich seiner Verantwortung mit einer Kündigung des Mietvertrages entledigen zu können. Daraufhin mobilisierte die Mannschaft die Öffentlichkeit, die am 1. November am historischen Ort und in Anwesenheit vieler Prominenter auf die existenzbedrohende Situation hinwies.

In den meisten Redebeiträgen – von Daniela Dahn über Gregor Gysi bis zu Holger Friedrich – kam zwar das Theater zur Sprache, aber eben auch ein Cold Case. Nämlich der Fall der Treuhandanstalt und ihres verheerenden Wirkens, mithin die verfehlte Vereinigungspolitik der politischen Klasse der Bundesrepublik. Gewiss gibt es inzwischen ganze Bibliotheken, die sich mit dem Raubzug des Westens in der „inkorporierten DDR“ (Peter Fellenberg) beschäftigen, doch es gibt noch ungezählte unerzählte Geschichten. Wie tief die persönlichen Verletzungen gingen, als die ideologische Abrissbirne über die ostdeutsche Wirtschaft, über die wissenschaftliche wie die kulturelle Landschaft schwang, machten viele Redner anhand ihrer eigenen Schicksale deutlich. Sebastian Haffner wurde mit einem Interview zitiert, das er dem Stern gegeben hatte: „Die Art, wie Kohl mit Modrow in Bonn umgesprungen ist, hat mich unwillkürlich an die Art erinnert, wie Hitler 1938 mit dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg umgesprungen ist.“ Der Historiker Haffner wollte nicht etwa Kohl mit Hitler vergleichen, wie er ausdrücklich erklärte. „Aber diese Art, mit dem schwächeren Partner umzugehen, als wäre er ein unverschämter Bettler, das hat mich daran erinnert.“

Es lässt sich nicht leugnen, dass es in Deutschland Traditionen gibt, die weder durch Kriege noch durch Zeitenwenden enden.

Der Leipziger Historiker Fellenberg, der damals zur Geschichte Lateinamerikas arbeitete, berichtete über sein Evaluierungsgespräch mit „unbekannten Namen und Gesichtern, denen fachlich Qualifiziertes nicht zu entlocken war. Manche blieben wortlos, andere grinsten nur. Ich bin unter anderem gefragt worden, welche Tageszeitungen ich lese.“ Mit dem ihm vorgesetzten Chef aus dem Westen habe es nur ein „einziges Gespräch von wahrscheinlich fünf Sekunden gegeben, das er einleitete mit der Frage, ob mir denn nicht klar gewesen sei, in einem Unrechtsstaat gelebt zu haben“.

Eine der oft an diesem Konferenzabend gebrauchten Vokabeln hieß „Respekt“. Gregor Gysi benutzte sie, auch der Verleger Holger Friedrich. Und von Demütigung ging die Rede, von Schamlosigkeit, mit der sich auf Kosten der Ostdeutschen bereichert wurde, ein Raubzug sondergleichen. Nie in der Menschheitsgeschichte zuvor sei in Friedenszeiten so viel Produktiveigentum und auch menschliche Energie vernichtet worden, hieß es. Da lag der Ruf nach Wiedergutmachung auf der Zunge. Gysi forderte sie in Gestalt einer Entschuldigung der Bundesregierung – für all das, „was kaputtgemacht worden ist“. Wer wirkliche Vereinigung wolle, müsse anders mit den Ostdeutschen umgehen. Kathrin Schülein verlangte in einem Drei-Punkte-Plan Einsicht, Entschuldigung und engagiertes Eingreifen. Und Respekt, weil „beim Start in die gemeinsame Einheit niemals wirtschaftliche Chancengleichheit und damit die Aussicht auf gleichberechtigte Teilhabe bestehen konnte und wir es trotzdem geschafft haben“. Eine ebenso zutreffende wie selbstbewusste Ansage.

Diese beiden Novemberabende im Theater Ost machten bewusst, dass die verflossenen Jahrzehnte unverändert einer vorurteilsfreien Aufarbeitung bedürfen. Der Cold Case heißt nicht nur „Beluga“, sondern Ostdeutschland. Schmidts Buch gibt es zu kaufen, demnächst auch einen Reader der Konferenz mit allen Beiträgen.

Michael Schmidt erinnerte übrigens auch daran, dass seinerzeit von der Ostsee als von einem Meer des Friedens gesprochen wurde, was es – trotz Kaltem Krieg – nahezu war. Insbesondere seit 1975, als beim Ostseeanrainer Finnland die KSZE-Schlussakte signiert wurde. Heute dominiere das Grau der Kriegsschiffe auf dem Wasser, Fischerboote gebe es kaum noch, weil es auch kaum noch Fische gibt. Es wimmele nur so von Zerstörern, Fregatten, Korvetten, Landungsschiffen, Flugzeugträgern und auch U-Booten. Von Ostsee-Anrainern und aus Übersee. Die ganze Ostsee sei inzwischen ein permanentes Manövergebiet, nirgendwo sonst auf der Welt fliegt so viel Kriegsblech am Himmel und schwimmt so viel Kriegstechnik im Wasser wie hier. Wir hatten zudem Nord Stream 2 und zerstörte Nachrichten- und Stromkabel auf dem Grund des Meeres…

Überall Cold Cases.

Michael Schmidt: Cold Case auf der Ostsee: Der Fall BELUGA. Verlag am Park, Berlin 2024, 240 Seiten, 20 Euro.