28. Jahrgang | Nummer 18 | 20. Oktober 2025

Von der schönen Linde

von Renate Hoffmann

Dies sei vorangestellt: Auf ihren Namen Linde“ lässt es sich trefflich reimen. Und „Tilia“, ihre lateinische Bezeichnung, ist zugleich ein aparter, charmanter, klangvoller weiblicher Vorname, der viel zu wenig vergeben wird.

„Tilia platyphyllos“, die Sommerlinde, erfuhr, neben all ihren gefälligen Eigenschaften auch die Würdigung, Heilpflanze des Jahres zu sein. Eine Heilpflanze, die bis zu 30 Metern und darüber hinaus in den Himmel wachsen kann, und es bei günstigen Bedingungen versteht, ihre Äste 1000 Jahre lang auszubreiten. – Ein Baum von vielbesungenem Liebreiz, mit nutzbringendem Holz und heilsamen Kräften ausgestattet, verdient die hohe Ehre.

Eigentlich hätte diese Laudatio auf die Linde bereits im Frühjahr gehalten werden sollen, wenn sie ihre herzförmigen Blätter entfaltet und die Wohlgestalt der Wuchsform zeigt; respektive im Juni und Juli den betörenden Duft ihrer kleinen weißen, zierlichen Blütenstände verströmt. Da aber diesmal die Heilkräfte des duftenden Wunderbaumes im Vordergrund stehen, wurde der Beitrag vorbeugend in die Herbstzeit verschoben, in welcher die Linde therapeutisch besonders gefragt sein wird. Nämlich in der Husten-, Schnupfen-, Heiserkeit-Saison.

Die baumförmige Heilpflanze lebt in unseren heimischen Breiten als Sommer- und Winterlinde. Beide unterscheiden sich nur geringfügig voneinander. Die Blätter der Winterlinde (Tilia cordata) sind kleiner als diejenigen der Sommerlinde. Letztere beginnt ihre Blühzeit im Juni, erstere etwa zwei Wochen danach. Linden gelten als Spätblüher unter den Laubbäumen. Auf diese Weise dienen sie den Bienen als erwünschte Sommernahrung und bringen uns in den Genuss des vorzüglichen Lindenhonigs. Er ist ebenfalls ein Quell heilender und aufbauender Stoffe.

Was die Linde jedoch zur Auserkorenen des Jahres macht, sind ihre Blüten. „Flores Tiliae“. Klein von Gestalt, groß in der Wirkung. An trockenen Tagen geerntet und schonend getrocknet. – Hermann Hesse, Dichter und Baumfreund schreibt dazu: „Jetzt blühen wahrhaftig schon die Linden wieder, und am Abend, wenn es zu dunkeln beginnt und die schwere Arbeit getan ist, kommen die Weiber und Jungfern daher, steigen an den Leitern in die Äste hinauf und pflücken sich ein Körblein voll Lindenblüten. Davon machen sie späterhin, wenn jemand krank wird und Nöte hat, einen heilsamen Tee.“

Für das heilsame Getränk benötigt man pro Tasse etwa zwei Teelöffel getrockneter Blüten, die mit kochend heißem Wasser übergossen werden. Den Auszug zehn Minuten stehen lassen und dann durch ein Sieb geben, um die Blütenrückstände zu entfernen. Den Genuss verfeinert man mit der Zugabe von etwas Honig (natürlich Lindenhonig!) und einer Scheibe Zitrone. Wohl bekomm‘s!

Die heilende Wirkung der Lindenblüten ist insonderheit bei Erkältungskrankheiten mit und ohne Fieber zu erwarten. Ihre schweißtreibende Eigenschaft unterstützt verordnete Schwitzkuren. Vielversprechend ist auch eine Linderung bei Reizhusten, Überforderungen, Unruhezuständen, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Für die Wirksamkeit sind folgende Inhaltsstoffe verantwortlich: der hohe Gehalt an Flavonoiden, ätherische Öle, Schleim- und Gerbstoffe.

Der Linde wird, ob ihrer Schönheit und der besonderen Art des Erscheinungsbildes, als „sanfter Baum“ geschätzt. Zu dieser „Sanftheit“ gehört auch das weiche Lindenholz. Seit jeher wurde es von Bildhauern für ihre Werke bevorzugt, wie man sie von den Altären des Tilman Riemenschneider und des Veit Stoß kennt. Die unvergleichliche Ausdrucksweise der Heiligenfiguren brachte dem Lindenholz die Bezeichnung „Lignum sacrum“ ein.

Von der hochhinauf wachsenden Heilpflanze heißt es, sie sei symbolhaft der Gerechtigkeit und der Treue verpflichtet und stehe für Freundschaft, Liebe, Frohsinn, Frieden und Gemeinschaftssinn. Gerichts-, Tanz- und Dorflinden erzählen davon.

Und all das sollte die Literaten nicht begeistert haben? Eine Auswahl: Walther von der Vogelweide schrieb von einem zärtlichen Liebesspiel, über das ein Lindenbaum sein Blätterdach breitete: „Unter der Linde / an der Heide, / wo unser beider Bette war, / da könnt ihr schön / gebrochen finden / Blumen und Gras. / Vor dem Walde in einem Tal tandaradei, / sang die Nachtigall lieblich.“ – Heinrich Heine verband folgerichtig Linde und Liebe miteinander: „Sieh dies Lindenblatt! Du wirst es wie ein Herz gestaltet finden, darum sitzen die Verliebten auch am liebsten unter Linden.“ – Joseph von Eichendorff darf unter den Dichtern nicht fehlen: „Bei einer Linde. Seh ich dich wieder, du geliebter Baum, / in dessen junge Triebe / ich einst in jenes Frühlings schönstem Traum / Den Namen schnitt von meiner ersten Liebe?“ – 

Die beste Huldigung aber erhielt die schöne Linde durch den Dichter Johann Ludwig Wilhelm Müller (1794-1827): „Der Lindenbaum: Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein Lindenbaum / Ich träumt‘ in seinem Schatten / So manchen süßen Traum. // Ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort; / Es zog in Freud und Leide / Zu ihm mich immer fort.“

Franz Schubert vertonte das Gedicht, und hob es zu einem Kunstlied. Und Friedrich Silcher bearbeitete diese Fassung, so dass daraus ein vielgesungenes Volkslied entstand, durch dessen Strophen leise Wehmut weht.

Die Linde im Park beginnt schon die Herbstfärbung anzulegen. Bald werden ihre Blätter fallen. Doch die Träume des heilenden Baumes durchzieht die Hoffnung auf eine reiche Blütenpracht im nächsten Jahr.