Man glaubt es kaum, die zweite Vorstellung einer Opernnovität vor ausverkauftem Haus mit einer Viertelstunde Ovationen am Ende! Mit Ludger Vollmers Oper „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig glänzt Chemnitz als Kulturhauptstadt.
Wenn man Chemnitz mit der Bahn IC(E)-frei ansteuert, wähnt man während der Fahrt erst mal nicht, in eine europäische Kulturhauptstadt zu kommen. Doch ausgerechnet die Oper der Stadt hat jetzt mit ihrem Auftragswerk „Rummelplatz“ das vollmundige Label auf einem Niveau beglaubigt, das man sich kaum besser denken kann!
Hier lässt sich das berühmte Wort vom Gesamtkunstwerk beispielhaft deklinieren. Das fängt bei der Vorlage an: Werner Bräunigs (1934-1976) groß angelegter Wismut-Roman, der auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 verdammt wurde. Das traf den damals gerade 31-jährigen Autor wie aus heiterem Himmel. War doch der Hochtalentierte sogar seinen Genossen auf dem Bitterfelder Weg mit der heute oft nur mitleidig belächelten Losung „Greif zur Feder Kumpel!“ vorangeschritten. Dabei war er nur ein Exempel für einen Kahlschlag vor allem in Literatur und Film, an den nur der personelle Aderlass im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung von 1976 heranreicht. Dass es unter anderen Christa Wolf war, die Bräunig bei dieser verhängnisvollen Tagung verteidigte, war ein Beispiel von Frauenmut vor Königsthronen. Der parteioffizielle Vernichtungsschlag und dieser Verteidigungsversuch hatten etwas mit dem Wahrheitsgehalt und der literarischen Qualität, dem ganz eigenen packenden Sound, der poetischen Sprachgewalt Bräunings zu tun, davon kann man sich seit dem posthumen Erscheinen des „Rummelplatz“-Fragments erst im Jahr 2007 überzeugen. Wer es gelesen hat, sollte die Oper nicht verpassen. Wer die Oper zuerst sieht, wird danach bestimmt zum Roman greifen.
Für Hallenser kommt hinzu: Bräunigs Helden geraten am 17. Juni 1953 Mitten in Halle in den für einen seiner Protagonisten tödlichen Strudel der Ereignisse. Aber auch, dass das verhinderte literarische Großtalent mit nicht einmal 42 Jahren in Halle-Neustadt der erzwungenen Bedeutungslosigkeit und dem Alkohol erlegen ist. Kein Ruhmesblatt im Buch der heimischen Geschichte.
Das Menschen- und Zeitpanorama des über sechshundertseitigen Romans hat Jenny Erpenbeck kongenial auf den Librettopunkt gebracht. Es hat schon gute Gründe, wenn eine Autorin wie sie den International Booker Prize (2024) bekommt. Dieses Libretto trifft die Atmosphäre unter und über Tage. Natürlich lässt es viel weg, aber es bleibt bei der ungeschminkten literarischen Wahrheit.
Ludger Vollmer ( geboren 1961) ist ein versierter erfolgreicher Opernkomponist (u.a. „Paul und Paula“, „Lola rennt“, „Tschick“, „The Circle“) mit einem untrüglichen Instinkt für die Bühne. Er beherrscht das betont rhythmische Parlando, aber eben auch das große Orchester. Und er scheut sich nicht, eine große Liebesszene zu komponieren und verfremdet oder auch mal direkt zu zitieren, was jeder kennt.
Es mag abenteuerlich klingen, wenn man es liest, aber auf ein chorisch wogendes „ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ die Aussagen von Marx über die Wirkung verschiedener Profitraten für das Verhalten des Kapitals zu legen, das ist hier so verwoben, dass es nicht nur intellektuell sondern auch emotional zu berühren vermag.
Diese Musik hat nichts von gekünstelter Novitätsversessenheit, sie macht die Figuren und wird von ihnen gemacht, um eine Wendung des Librettos abzuwandeln, bei der es um die Arbeit, das Erz und die Menschen geht. Vor dieser Musik muss sich nicht nur niemand fürchten, sie bietet neben den Zitaten auch einige verdeckte Bezüge. Die drei grellen Mädchen haben ihre Vorbilder ob nun bei Mozart, Wagner oder Richard Strauss. Die instrumentale Ausschmückung beim Einfahren in den Schacht erinnern von Ferne an das Hämmern der Nibelungen bei Wagner. Für den neuen Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie Benjamin Reiners ein dankbarer Einstieg mit weit über Sachsen hinausgehender Strahlkraft! Dazu kommt ein fabelhaftes über zwanzigköpfiges Ensemble: Ob Thomas Esel als Peter Loose, Counter Etienne Walch als Student Christian, Jacob Center als aufrechter Altkommunist Hermann Fischer oder Marlen Bieber als Ingrid und Jenna Cazel als dessen Tochter Ruth – allesamt in Hochform und sozusagen mit dem Herzen dabei.
Zum Gesamtkunstwerk wird das Ganze schließlich durch die kongeniale Inszenierung von Frank Hilbrich. Die bedrohlich grauen Wände (hier gehören sie wirklich her) sind der Rahmen für die über die ganze in Zeitlupe zelebrierte Szenenfolge, in der jede Person punktgenau charakterisiert wird. Der Clou sind die Einblicke in die Arbeit Untertage. Jeder Bergmann in seinem beklemmend engen Stollenabschnitt.
Was Volker Thiele hier mit seiner Bühne beisteuert, überträgt sich fast körperlich. Das metaphorische Ausbrechen aus dem Trott der Schwerstarbeit durch die Luftschaukel auf dem Rummelplatz, die präzise durchchoreographierten Tanzexzesse, die Prügeleien und stilisierten Chorauftritte, schließlich die Gerichtsverhandlung, die einen der Helden hinter Gitter bringt, weil man einen Sündenbock für ein Unglück braucht, – das ist alles mit atemberaubender Genauigkeit aus der Musik inszeniert.
Selbst der hinzugefügte Epilog, der auf die Abwicklung der Wismut hinweist, entgleitet in seiner Nüchternheit nicht ins Platte. „Ich hab die Arbeit gemacht. Und die Arbeit hat mich gemacht. Es war mein Leben. Auch wenn es jetzt so aussehen mag, als wär das alles nichts wert.“ Diese letzten Sätze von Ruth beschreiben genau die Haltung, die diese Oper bei ihrem Publikum ankommen lässt.
Die „Rummelplatz“-Oper ist neben der Zwickauer Ausstellung „Sonnensucher“ mit Kunstwerken aus der Sammlung der SDAG Wismut das zweite herausragende Projekt, das sozusagen aus der Tiefe der Region das Projekt Kulturhauptstadt Chemnitz glanzvoll bereichert. Schade, dass niemand auf die Idee gekommen ist, eine Art Wismut-Kombiticket anzubieten, welches Oper, Ausstellung und vielleicht noch einen Rabatt für den Roman von Bräunig gegenseitig begünstigt.
Schlagwörter: „Rummelplatz“-Oper, Jenny Erpenbeck, Joachim Lange, Kulturhauptstadt Chemnitz, Ludger Vollmer, Werner Bräunig


