28. Jahrgang | Nummer 18 | 20. Oktober 2025

Mein Name sei BIN – Lutz Rathenow

von Axel Reitel

Divers

Bin ich ein Rind

Bin ich ein Kind

Bin ich der Wind

Ich ändere mich

gern geschwind.

Als BIN kann ich überall hin.

Lutz Rathenow

 

Mit seinem neuen Werk „Früher ist morgen“ legt der Bürgerrechtler, Schriftsteller und Lyriker Lutz Rathenow einen aktuell greifenden Gedichtband über das Erinnern, das Verstören, das Misstrauen vor.

Wie von ihm gewohnt, verbindet Lutz Rathenow das Private mit dem Politischen und das Sprachkritische mit dem Menschlichen. Er erkennt feinnervig die rhetorischen Hohlräume der Systeme – ob Sozialismus oder neoliberaler Alltag – und füllt sie mit Literatur, die nach dem großen Weltalltag klingt. Sein Stil ist zugänglich, aber nicht simpel. Die Gedichte sind, ohne Redundanz, eher Miniaturen der Ambivalenz: tastend, lakonisch, ironisch, gelegentlich zärtlich. In jedem der fünf Kapitel spürt man: Hier schreibt ein Mensch, der weiß, wie verletzlich Sprache ist – und wie viel Widerstand sie dennoch leisten kann.

Doch der im Verlag Ralf Liebe mit viele Liebe und Können gestaltete Band steht ganz in dieser Tradition – und geht noch einen Schritt weiter. „Ich fordere auf, mir zu misstrauen.“ Kaum ein anderer Satz in diesem Band könnte den Ton dieser Sammlung besser einfangen: Eine Sammlung gegen Linearität.

Die 111 Gedichte – entstanden zwischen 1971 und 2024 – sind kein Rückblick im klassischen Sinn. Sie bilden ein poetisches Langzeitprotokoll, das sich der Autobiografie ebenso entzieht wie der ästhetischen Glättung. Rathenow stellt sich nicht aus – er geht durch sich hindurch. Die Gedichte sind „Bruchstellen, Blickwinkel, irritierende Zäsuren“, wie er selbst sie nennt.

Der Titel „Früher ist morgen“ ist dabei mehr als ein sprachliches Paradox – er ist poetologisches Programm. Erinnerung wird nicht bewahrt, sondern aktualisiert. Was einmal war, wirkt weiter – nicht als feste Figur, sondern als flüchtige Stimmung. So ist Vergangenheit im Rathenows Kosmos keine Chronologie, sondern eine Bewegungsform. Manchmal erratisch, fragmentarisch, aber unverkennbar ist die fast flüchtige Ironie als Sprachwiderstand und als Lutz Rathenows literarische Haltung

Viele der Gedichte sind kurz – manchmal nur zwei, drei Zeilen –, aber sie eröffnen Räume. „Placebogedicht“ seziert das öffentliche Vokabular der Gegenwart, „Falttag“ verwandelt den DDR-Wahlakt in einen sprachkritischen Witz, „Tattoolyrik“ tanzt zwischen Kindergedicht und 1968er Utopie, „Graitschen, bei Jena“ baut aus Abriss eine Erinnerungsinstallation an sich selbst untergegangene Schreckenszeiten.

Eindrucksvoll ist Rathenows Umgang mit Nähe: „Der Vater, Abschied“ ist eine zärtliche Bewegung durch das Glas von den Frontscheiben der Automobile seines Vaters – kein pathetisches Gedicht, sondern eine tastende Erinnerung.

Und dann kommt mit „Divers“ ein scheinbar leichtes, fast reimendes Gedicht über Identität und Bewegung daher, wirkt der letzte Vers programmatisch: „Als BIN kann ich überall hin.“

Das Hilfsverb „bin“ wird substantiviert. Identität wird transitiv. Der Titel der Rezension – Mein Name sei BIN – speist sich genau aus dieser poetischen Bewegung: Identität ist nicht fixiert, sondern unterwegs.

Sprache ist nicht Antwort, sondern Frage, zwischen Weltbeobachtung und Innenblick.

Die fünf Kapitel des Bandes gliedern sich wie poetische Landschaften. In die „Die Welt berühren“ überwiegen Kindheitsbilder, Zugfahrten, Sprachkritik. In „Tauschen wir die Geheimnisse wie früher die kleinen Bilder“ haben wir es mit Erinnerungen, politische Miniaturen, literarischer Selbstreflexion zu tun. In „Erwachsen genug, Kind zu sein?“ geht es um Reimspiele, absurde Dialoge und – sagen wir – Identitätssplitter.

„Gezwitscher Getöse Gelächter“ wirft Jena, Thüringen, die DDR und überhaupt das System auf den „Brater“. Im Schlusskapitel „Die Texte laufen in verschiedene Richtungen davon…“, gibt es eigentlich keinen Punkt, Schlussstrich oder Schlussakkord. Es sind wohl Abschiedstexte, Selbstgespräche, sogar Sprachfluchten, ließe sich mutmaßen.

Und ist das letzte Gedicht „Früher ist morgen und heute scheint weg“ auch wie eine poetische Schlussfuge, blendet sich der Text nicht aus und zieht sich etwa ins Schweigen zurück. Das ist überhaupt ein Merkmal dieses Buches, dass sich seine Sprache mitunter zurückzieht, aber nie ins Schweigen kippt. Sie flüstert weiter, bricht einen Ast, wispert, beobachtet oder knackt mit den Knochen, wie buchstäblich das lyrische Ich verrät, wenn es zunächst behauptet: „Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät / Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.“ Schauen wir es uns zum Schluss an:

 

Früher ist morgen und heute scheint weg

Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen,

sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu.

Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät

Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.

Jenseits des Fensters ein Stummfilm, das Summen

einer Welt, die ihre Laute nicht verschleudert.

Ich kann, was ich kann: ein Geheimnis behalten,

für mich. Bis es allmählich der Körper vergisst.

 

Der Verlag Ralf Liebe hat mit dieser Ausgabe zudem ein bibliophiles Objekt geschaffen: Leineneinband, Holzschnitte, nummerierte Auflage – Literatur als Materialkunst. Die Holzschnitte von Katja Zwirnmann sind grafische Echokammern, die mit Lutz Rathenows Textstruktur korrespondieren.

Lutz Rathenow: Früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte mit 10 Holzschnitten von Katja Zwirnmann. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2025. 151 Seiten, 25,00 Euro. Einmalige nummerierte Auflage von 1000 Exemplaren.

Axel Reitel, geboren in Plauen, Häftlingsfreikauf 1982, Schriftsteller, zuletzt: Poesiealbum 369, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022; „Das polnische Fieber“, Romanprolog, aus: „In Worten“, Anthologie, Edition Exil PEN, Hamburg 2025. Reitel lebt in Berlin.