Im Spätsommer veröffentlichten Jörg Arnold und Peter-Michael Diestel unter dem Titel „Kriegstüchtig. Nein danke. Plädoyer für Frieden und Völkerrecht“ einen Essay, der sich auf den Präsentiertischen im Buchhandel neben den Büchern von Carlo Masala und anderen Kriegsertüchtigern wohltuend abheben wird. Die beiden Autoren sind Juristen: Arnold arbeitete bis zur Berentung am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Diestel ist Anwalt. Den Älteren dürfte er noch als letzter Innenminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière in Erinnerung sein.
Auf reichlich hundert Seiten setzen sie sich mit der seit über drei Jahren und auf allen Ebenen um sich greifenden Kriegsertüchtigung auseinander. Ihr Zugang ist das Völkerrecht – wenig überraschend für zwei Juristen. Interessant sind allerdings die biografischen Wegmarken, die nicht unwesentlich dafür verantwortlich sein dürften, dass diese beiden, in der DDR sozialisierte Juristen eine besondere Sensibilität für die politische Vereinnahmung des Rechts entwickelten.
Diese Sensibilität lässt sie die zunehmende Verwahrlosung des Rechtsverständnisses beklagen – bei denjenigen, die politische und juristische Entscheidungen treffen, aber auch bei denjenigen, die diese Entscheidungen medial aufbereiten. Ihr Ziel ist die Eröffnung eines juristischen Gegendiskurses, denn der Zeitgeist missbrauche das Völkerrecht als Kaugummi, argumentieren sie recht zugespitzt: Es werde darauf herumgekaut und wenn man es nicht mehr brauchen würde, einfach ausgespuckt. Das Instrument, das sich die Vereinten Nationen nach zwei furchtbaren Weltkriegen geschaffen hatten, um derartige Kriege künftig zu verhindern, werde systematisch ausgehöhlt. Die Konsequenz dieser Entwicklung: Die Welt rücke immer näher an einen Weltkrieg heran, der möglicherweise sogar mit Atomwaffen ausgetragen werden könnte.
Für Nichtjuristen schlüssig leiten sie her, was vom bellizistischen Diskurs der letzten drei Jahre vollständig zugeschüttet wurde, dass das Friedensgebot und das Gewaltverbot die zwei zentralen Stützen des Völkerrechts sind. So verpflichtet Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen die Weltgemeinschaft dazu, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten und Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“. Statuiert wird also die zwingende Verpflichtung zur friedlichen Beilegung aller Streitigkeiten.
Die Tatsache, dass in einer Zeit wachsender Kriegsgefahren auf der internationalen Ebene seltener denn je über diesen Friedensgrundsatz gesprochen wird, schlägt sich auch in den nationalen Debatten nieder. Die Autoren verweisen auf das Friedensbekenntnis in der deutschen Verfassung und stellen zugleich fest, dass der im Juni 2022 geänderte Art. 87a, der nun eine Kreditermächtigung im Rahmen eines einmaligen Sondervermögens für die Bundeswehr möglich macht, das Friedensgebot der Verfassung relativiere. In Deutschland zeige sich insbesondere an der von Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“, dass derzeit eine Vertiefung und Verstärkung der deutschen Außenpolitik eingeläutet wird, die sich immer mehr vom Friedens- und Gewaltverbot verabschiedet.
Doch die Charta der Vereinten Nationen stützt sich nicht nur auf das Friedensgebot, sondern auch auf das allgemeine Verbot der Anwendung und Androhung von Gewalt. Die Autoren machen deutlich, dass die Völkerrechtsordnung seit Ende des Zweiten Weltkrieges ganz maßgeblich auf dem in Art. 2 der UN-Charta festgeschriebenen Gewaltverbot basiere. Dieser verbiete jede Gewaltanwendung und -androhung in den internationalen Beziehungen, insbesondere die Anwendung militärischer Gewalt. Der Krieg sei kein völkerrechtlich erlaubtes Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen.
Es sagt viel über den Umgang westlicher Regierungen mit dem friedenspolitischen Nachlass der Nachkriegsgeneration aus, wenn die herrschende Politik immer weniger vom Völkerrecht und immer mehr von der „regelbasierten Ordnung“ spricht. Die Autoren betonen, dass nach internationalem Verständnis das Völkerrecht integraler Bestandteil einer „regelbasierten Ordnung“ sei, der Begriff aber völkerrechtlich umstritten und eine klare juristische Interpretation nicht gesichert ist. Ihn dennoch zu benutzen, sei kein versehentlicher rhetorischer Fehltritt, sondern die beabsichtigte Benutzung einer Metapher, „um nicht mehr vom Völkerrecht sprechen zu müssen“.
Außerdem verweisen sie darauf, dass insbesondere die deutsche Debatte weit über die Nutzung des Begriffs „regelbasierte Ordnung“ hinausgehe. Hier sei die Debatte stark politisch und moralisch kontextualisiert. Wenn überhaupt, dann werde das Völkerrecht nur am Rande erwähnt. Es sei zwar Bestandteil der „regelbasierten Ordnung“, jedoch von Normen, Standards, Verhaltens- und Moralregeln geprägt, die rechtlich nicht bindend seien. Die „regelbasierte Ordnung“ werde so zu einer „wertebasierten Ordnung“, was den politisch Handelnden ein Höchstmaß an Flexibilität verschaffen würde, um sich nicht mehr an diese völkerrechtlichen Verbindlichkeiten gebunden fühlen zu müssen.
Eine Entwicklung mit fataler Konsequenz. Denn wer nicht vom Völkerrecht spricht, kann auch nicht mit Völkerrechtsbrüchen konfrontiert werden. Die zunehmende Berufung auf die regelbasierte oder wertebasierte Ordnung drängt das Friedensgebot und das Gewaltverbot der UN-Charta in den Hintergrund. Die Vorzeichen verkehren sich ins Gegenteil. Der Weg zum Frieden ist nicht mehr mit Diplomatie und Gewaltverzicht gepflastert, sondern mit Stärke und Abschreckung. Konsequent zu Ende gedacht, verunmögliche das daraus resultierende Dogma „Frieden durch Krieg“ jegliche Friedensbemühungen.
Das konsequente Ausbuchstabieren des Völkerrechts gestattet den Autoren dann auch einen kritischen Blick auf die deutsche Staatsräson. Wiederholt hatten Teile der Bundesregierung ausgeführt, dass diese in einer bedingungslosen Solidarität mit Israel bestünde. Arnold und Distel argumentieren, dass die Staatsräson in keinem Falle das Völkerrecht brechen dürfe. Mehr noch: Eine konsequente Anwendung des Völkerrechts ließe keine andere Möglichkeit zu, als den „Krieg Israels in Gaza“ in aller Deutlichkeit zu kritisieren. Am Gewaltverbot und Friedensgebot gemessen, wäre Deutschland sogar dazu verpflichtet, seine Unterstützung und Beihilfe unverzüglich einzustellen.
Arnold und Diestel haben eine friedenspolitische Position, daraus machen sie keinen Hehl. Diese war ihr Antrieb, die Streitschrift zu schreiben. Dennoch argumentieren sie nie moralisch, sondern streng juristisch. Und so ist es wenig verwunderlich, dass sie auch den möglichen Vorwurf, eine Kritik am „Krieg Israels in Gaza“ sei antisemitisch, juristisch kontern: Ein derartiger Vorwurf leugne die Universalität der Menschenrechte ebenso wie die des menschlichen Lebens.
Auch in Bezug auf den Ukraine-Krieg hangeln sich die Autoren eng an der Herleitung des Völkerrechts entlang. Dabei argumentieren sie, dass Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine einen gravierenden Bruch mit dem Gewaltverbot und dem Friedensgebot begangen habe. Sie werben dafür, die geltenden universellen Rechtsmaßstäbe auf alle handelnden Staaten anzuwenden, das heißt, die schwerwiegenden Völkerrechtsverletzungen aller Seiten zu benennen und anzuprangern. Dennoch kommen sie zu dem Schluss, dass der Ukraine-Krieg seinen Charakter verändert habe und von einem Selbstverteidigungskrieg gegen den russischen Aggressor zu einem Stellvertreterkrieg mit dem strategischen Ziel, Russland zu schwächen, geworden sei.
Mit Verweis auf den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, der in einem Interview mit der Deutschen Welle geäußert hatte, dass es strategisch notwendig sei, einen Friedensschluss in der Ukraine vor 2029/30 zu verhindern, „damit wir uns auf den Krieg mit Russland angemessen vorbereiten können“, kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass man nicht mehr von einem legitimen Selbstverteidigungsrecht der Ukraine sprechen könne. Insbesondere die Anschaffung US-amerikanischer Typhon-Waffen durch die Bundesregierung, die in der Lage wären, in zweitausend Kilometer Entfernung Ziele in Russland zu erreichen, würde die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung deutlich erhöhen. „Eine Selbstverteidigung, die zu einer solchen realen Gefahr führt, kann nicht mehr als angemessen bezeichnet werden“.
Gerade weil Arnold und Diestel streng logisch und den friedenspolitischen Grundsätzen des Völkerrechts folgend argumentieren, sind sie in der Lage, die Gefahr zu sehen, mit der sich die aktuelle Eskalationsspirale mehr und mehr in die internationalen Beziehungen schraubt. Konsequenterweise sehen sie die Abwendung dieser Gefahr einzig in der Deeskalation. Ein friedensproduktives Entgegenkommen Russlands, argumentieren sie, könnte verbunden sein mit Argumenten für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur. Diese funktioniere aber nur, wenn man Russland einbeziehe.
Arnold und Diestel bleiben nicht bei der ausschließlichen Betrachtung des Völkerrechts. Ihr Essay liest sich ganzheitlich. Sie beleuchten den Sozialabbau, der infolge der unbegrenzten Aufrüstung langsam im sogenannten „Herbst der Reformen“ Gestalt anzunehmen droht, ebenso wie die Auswirkungen der Kriegsvorbereitung auf Klima und Umwelt. Die Autoren tun das faktenreich und engagiert, unter Verweis auf viele wichtige Quellen und getrieben durch die Motivation, in den Gegendiskurs einzusteigen. Ihre juristische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen unserer Zeit ist auch für Nichtjuristen gut verständlich aufbereitet.
Sie haben einen Essay vorgelegt, das mehr ist als eine Streitschrift, es ist ein Manifest, das leidenschaftlich für den Erhalt des Friedens wirbt. Es ist eine Sammlung von Argumenten. Und es ist Ermutigung. Denn es zeigt, dass die negative Verschiebung des politischen Diskurses nicht alternativlos ist. Der Rückblick in die Vergangenheit, in der die Mütter und Väter der Vereinten Nationen unter dem Eindruck zweier furchtbarer Weltkriege mit der UN-Charta Regeln schufen, die eine Wiederholung des Kriegshorrors für alle Zeit verhindern sollte, weist den Weg in die Zukunft. Doch Arnold und Distel halten sich nicht mit wirkungslosen Appellen an die Herrschenden auf. Im Gegenteil, sie werben für den Aufbau einer breit getragenen Friedensbewegung. In diesem Szenario sind die Menschen keine namenlosen Statisten auf dem Planquadrat offener Kriegsvorbereitung, sondern Subjekte, die aufgefordert sind, sich für eine Welt ohne atomare Bedrohung, Kriegsangst und Bombenterror einzusetzen.
Mit diesem Anspruch wird ihr Essay zu einer unschätzbaren Bereicherung. Leserinnen und Leser werden darin nicht nur viele gute und hilfreiche Argumente finden, sie werden von Beginn an durch die Friedenssehnsucht der Autoren angesteckt werden. Eine absolute Leseempfehlung für alle, die in diesen Zeiten nach Hoffnung und Zuversicht suchen.
Jörg Arnold, Peter-Michael Diestel: Kriegstüchtig. Nein danke. Plädoyer für Frieden und Völkerrecht, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2025, 112 Seiten, 12,00 Euro.
Ulrike Eifler ist eine aus Eberswalde stammende und in Bayern lebende Autorin, die in Marburg Sinologie und Politikwissenschaften studiert hat. Sie arbeitet als Gewerkschaftssekretärin in Würzburg und ist Mitglied des Parteivorstandes der Linken.
Schlagwörter: Jörg Arnold, kriegstüchtig, Peter-Michael Diestel, Ulrike Eifler, UN-Charta, Völkerrecht


