Wie andere französische Maler glaubte Pierre Bonnard, ein früher Anhänger Gauguins und der japanischen Kunst, dass der Aufenthalt am Mittelmeer das einzig Richtige für seine Gemütsverfassung wäre. Nach vielen Malausflügen in das Tal der Seine und überhaupt in den Süden bezog dieser so publikumsscheue Künstler schließlich 1926 ein Haus in Le Cannet in der Nähe von Cannes. Während seine Arbeiten – eine verfeinerte und intensivierte Form des Impressionismus auf der Grundlage von schimmernden, leuchtenden Farboberflächen – einerseits viele Bewunderer und Sammler fanden („Hafen von Cannes“, 1917; „Weiße Boote“, um 1925), kamen sie andererseits schon Mitte der 1920er Jahre einigen Künstlerkollegen recht antiquiert vor. Picasso erschienen sie dekadent, „ein Potpourri der Entschlusslosigkeit“, das nicht die Disharmonie und die entschiedenen Kontraste besaß, wie er sie in seinen Bildern schätzte.
Die Frage, ob Bonnard „modern“ ist, wird aber gegenstandslos, wenn man sie auf dem Hintergrund der distanzierten, gedankenvollen Schönheit seiner Arbeiten sieht, einer Schönheit von solcher Intimität und bis ins Kleinste reichenden Intensität, dass sie den Vergleich mit dem späten Claude Monet und dessen experimentellen Farbtechniken durchaus nicht zu scheuen braucht.
Mit acht Hauptwerken nimmt der „Intimist“ Bonnard einen dominierenden Platz in der familieneigenen, jetzt in vierter Generation fortgeführten Scharf Collection ein, die nun zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wird. Wenn Bonnard in einem unbewachten Augenblick die Menschen und Dinge beobachten konnte, dann wurden sie unversehens zu Akteuren in einem Drama – manchmal auch einer Komödie (so „Place Clichy“, 1906, oder „Lagune an der Seine“, o. J., in der Sammlung Scharf). Der Künstler saß ruhig beobachtend und überraschte immer wieder die vertrauten Dinge in seinem Blickfeld, beschnitt sie auf merkwürdige Weise, malte sie von unerwarteten Winkeln aus und ließ sie in plötzlich aufglänzenden Farbschauern zergehen („Stillleben mit Katze“, 1924; „Korb mit Pfirsichen“, 1942). Fast jedes Bild weist irgendein überraschendes, bisweilen fast paradoxes Moment auf, das man ergründen muss.
Es ist fast immer dieselbe Frau, Marie Boursin, bekannt als Marthe, die Bonnard als Modell für seine eindrucksvollen erotischen Bilder diente – ein Mädchen, das sich in der blauen Dämmerung des Schlafzimmers wollüstig im Schlaf räkelt, das sich animalisch in der Badewanne aalt („Die große Badewanne“, 1937-39, gibt den Auftakt der jetzt gezeigten Ausstellung) oder sich – unbeobachtet glaubend – der Körperpflege widmet. Als sie schon 60 war, malte er immer noch ihren 30-jährigen Körper. Bis zuletzt spielte sie ihre Rolle, in sich selbst vertieft, als Gegenstand seiner Blicke: Bonnard löste sie in Licht auf, erschuf sie in Farbe neu und besaß sie, aus der Ferne liebend, wieder und wieder.
Mit dem Begriff Post-Impressionismus sind seine ungewöhnlich komplizierten Kompositionen und Blickwinkel, Spiegelungen und raffinierte Farbigkeit wohl nicht mehr zu fassen. Im Nie-Ganz-Ausgesprochenen, im Nur-Angedeuteten liegt der sich immer wieder erneuernde Zauber seiner Kunst.
Die Collection Scharf, eine der bedeutendsten deutschen Privatsammlungen, setzt seit ihrem Begründer Otto Gerstenberg ihren Schwerpunkt in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts – vor allem im französischen Impressionismus und Postimpressionismus. Während dann Dieter Scharf den Symbolismus und Surrealismus ins Auge nahm (seine Sammlung „Surreale Welten“ wird seit 2008 als Dauerleihgabe an die Nationalgalerie in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin Charlottenburg gezeigt), setzte sein Bruder Walther Scharf das Sammeln des französischen Impressionismus mit Hauptwerken von Monet, Cézanne und eben auch Bonnard fort. Heute führt sein Sohn René Scharf mit seiner Ehefrau Christiane diese Sammlung und konnte neben Werken des abstrakten Expressionismus weitere wichtige Werke der klassischen Moderne erwerben. Zu den gegenständlichen kamen nun auch die abstrakten Bildwelten bis in die Gegenwart hinzu.
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Der spanische Maler Francisco de Goya, der die letzten Lebensjahre im französischen Exil verbrachte, hatte unter die Radierung eines träumenden, über einen Tisch zusammengesunkenen Mannes geschrieben: „El sueño de la razón produce monstruos“ („Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer“). Diese Monstren sollten später die Surrealisten sezieren. Goyas Räume in seinen berühmten Druckserien sind keine Landschaften, in denen man sich ergehen kann. Der Raum ist zu einem Gefängnis von bedrückender Ausweglosigkeit geworden, den die Menschen durchschreiten müssen. Durchgehend ist Goya schrecklich klarsichtig im Hinblick auf die physische Brutalität von Konflikten und die menschliche Verwüstung, die sie anrichten.
Das sozialkritische Anliegen Honoré Daumiers wiederum erhält besonders in den Bronzeabgüssen der Parlamentarier der Juli-Monarchie (etwa 1831-35) beredten Ausdruck. Mit Ironie und Übertreibung wird hier dreidimensionale Karikatur betrieben. Daumier wurde zum Gewissen einer von sozialen und politischen Umbrüchen geprägten Epoche. 1850 entstand „Ratapoil“ (1891: erster Guss nach dem Originalgips von 1851), die haarige Ratte, eine schmierige, verschlagene, dürre Gestalt ohne Rückgrat, mit Gehrock, Zwirbelbart und Schlagstock, die den Bonapartismus verkörpert.
In der ergreifenden Szene „Der Tod des Lara“ (1847/48) von Eugène Delacroix verbirgt sich eine dramatische Geschichte. Romantizismus kommt hier mit naturalistischer Detailschilderung zusammen.
Henri de Toulouse-Lautrec, der verkrüppelte Zwerg, hatte ein Leben als Aristokrat aufgegeben, um das Kabarettdasein auf dem Montmartre und – so in der lithografischen Mappe „Elles“(1896) – die Verhältnisse in den Pariser Bordellen mitfühlend zu schildern. Er widmete sich am liebsten Szenen voller beobachtender Beobachter. Berühmt wurde er durch seine Plakate („Moulin Rouge“,1891, Lithografie), hier verdichtete er alle Gesichter zu Masken, zu formalisierten Zeichen seiner selbst. Bereits Otto Gerstenberg hatte die größte Sammlung von Druckgrafik Toulouse-Lautrecs erworben.
Mehr als vierzigmal hat Claude Monet die Waterloo-Brücke in London im Bild festgehalten. Die in der jetzigen Ausstellung vertretene Fassung (1903) zeigt die Brücke in der Morgendämmerung, bei tiefhängendem Nebel, mit rauchenden Schloten von Fabrikgebäuden im Hintergrund. Keiner hat die „Haut“ der Landschaft eindringlicher geschildert als Monet.
Edgar Degas zeichnete Frauen, nackt oder bekleidet, wie in einem Schnappschuß, in gedankenloser Unbewusstheit, bar jeder Konzentration. Ein fortschreitendes Erblinden war wohl der Grund dafür, dass er von der Ölmalerei zum Pastell und zu Wachsfiguren überging, von denen einige später in Bronze gegossen wurden. – Degas‘ ungenierte Akte werden ergänzt durch Renoirs „Junge Frau mit Blumenhut“ (1877-79); in Licht und Farbe wird hier ein flüchtiger Moment eingefangen, charakteristisch für Renoirs impressionistischen Stil.
Paul Cézannes „Die Badenden“ (Aquarellfarben über Bleistift auf Papier, 1896-98) stellt blockhafte, eckige Körper unter sich wölbenden Bäumen zur Schau. Eine Vision, die an den Wunsch des Künstlers gemahnt, dem Leben Dauer zu verleihen.
Picasso dagegen setzt anstelle körperhafter Formen eine in Licht getauchte, zeichenhafte Fläche. Seine Collage „Gitarre und Notenblatt“ (1912) – hier sind bemalte Papiere auf eine Tapete geklebt – erschließt sich nur durch die Buchstaben „VALSE“ und das Fragment einer Partitur; die Drehbewegung eines Walzers soll angedeutet werden.
Picasso hat zwar den Boden für den Kubismus vorbereitet, aber es war Georges Braque, der diese Geometrie der Andeutungen und Unvollständigkeit weiterentwickeln sollte („Job“, „Fox“, beide 1911, Kaltnadelradierungen). Wie treten die Gegenstände zueinander in Beziehung? Braque versucht, das Bild so auf den Betrachter zukommen zu lassen, dass der sich fast körperlich als ein Teil des Bildes empfindet.
Fernand Léger wiederum malte Figuren, als ob sie Automaten wären, in einer technisierten Welt („Haus mit Hund“, 1921). Ein Sinnbild für menschliche Beziehungen, die so reibungslos wie ein Uhrwerk funktionieren und alle Leidenschaft sublimiert und das Verlangen, die alles verbindende Kraft, in plastische Rhythmen umgewandelt haben.
Henri Laurens entfernte sich von der synthetischen Unsicherheit und ging über zu ruhigen Strukturen, sich überschneidenden Ebenen und zu einer beeindruckenden Durchsichtigkeit („Frauenkopf“, 1920, Terrakotta).
Für Henri Matisse schließlich ging es weniger um das Thema des weiblichen Aktes als Schönheitsideal, für ihn wurde die nackte Gestalt in spannungsvoller Körperdrehung Ausdrucksträger („Akt mit blauem Kissen“, 1925, Lithografie).
So könnte man noch viele weitere Werke, Stilrichtungen und Kunstperioden dieser einzigartigen Sammlung benennen, die im nächsten Jahr nach Düsseldorf weiterziehen wird. Diese Auswahl von etwa 150 Werken zu betrachten, heißt einzutauchen in die letzten drei Jahrhunderte Kunstentwicklung, ihre Sprache und Ausdrucksmöglichkeiten, ihre besonderen Merkmale, Erscheinungsformen, Erfahrungen – und unzähligen Querverbindungen.
„The Scharf Collection. Goya, Monet – Cézanne – Bonnard – Grosse“, Alte Nationalgalerie, Museumsinsel Berlin, Dienstag bis Sonntag 10:00 bis 18:00 Uhr; bis 5. Februar 2026. Katalog – DCV, Dr. Cantz‘sche Verlagsgesellschaft, 48,00 Euro (Buchhandel), 38,00 Euro (Museum).
Schlagwörter: Klaus Hammer, Sammlung Scharf


