Den nachfolgenden Text entdeckte ich dieser Tage; er ist 36 Jahre alt. Die darin zitierten Dichterworte hingegen wirken, als wären sie für das Hier und Heute geschrieben, und sie bestätigen meine schon länger gehegte Befürchtung: Offenbar ändert sich alles, wie es war.
Ein Ferienmontag auf der Insel Hiddensee. Und Schriftsteller-Lesung im Gerhart-Hauptmann-Haus. Diese sommergästefreundliche Veranstaltungsreine besteht seit 1987 – abwechslungsreich, anspruchsvoll. Ihr Besuch ist das sicherste Kapitel in meinen Urlaubsplänen zu Beginn des Jahres.
Günter Grass liest. In Hauptmanns Arbeitszimmer und angrenzend in Hörweite sind Räume und Zwischenräume besetzt. Die Sommergäste bringen ihren Sonnenbrand mit, Sand zwischen den Zehen und spürbare Hellhörigkeit.
„Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an …“ DAS TREFFEN IN TELGTE. Die pralle, sinnenfreudige Erzählung spielt im letzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges. Lust und Leid liegen eng beieinander. Die handelnden Personen sind bekannte Autoren. Unter ihnen Andreas Gryphius, Paul Gerhardt, Hofmannswaldau. Der Liederdichter Simon Dach hat zu einem Literatentreffen eingeladen. Aus allen Himmelsrichtungen reisen sie an, „ausgehungert auf literarische Wechselworte“.
Der auserwählte Tagungsort ist von einem schwedischen Stab belegt. Man weist die Autoren ab. Ich notiere mir Grass‘ Kommentar dazu, denn er ist zeitlos: „Die starken Dummen. Ihre gepanzerte Leere. Ihr ödes Grinsen. Keinem der schwedischen Herren waren ihre Namen bekannt.“
Die Literaten ziehen weiter nach Telgte. Wo sie in einem Schelmenstreich ein Gasthaus für ihre Zwecke räumen.
Die nun folgende Konferenz besteht aus „Lese- und Diskutiertagen“. Die Poeten tragen ihre Werke vor. Und sie verfassen einen Friedensaufruf. – Lobreden streicheln, Wortgefechte funkeln, Bosheiten peitschen. Am Ende bricht Feuer aus, der Gasthof geht in Flammen auf. Der von allen unterzeichnete Friedensappell verbrennt (Grass in einem Gespräch mit Siegfried Lenz: in TELGTE weise er auch auf einen ohnmächtigen, ja trotzigen Versuch der Autoren hin, selbst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges einen Nationbegriff zu formulieren).
Aus dem BUTT wählt Grass das Kapitel über „die andere Wahrheit“. Die Bilder sind ähnlich. Wieder treffen sich bekannte Poeten. Diesmal in der Försterei des Olivaer Waldes. „Wo sie verlegerisch sein und ihre Gedanken tauschen wollten“. Die Brüder Grimm, Brentano, Arnim; später kommen noch Bettina von Brentano und Philipp Otto Runge hinzu. Die Gespräche kreißen um die Herausgabe weiterer Bände von „Des Knaben Wunderhorn“, den Tilsiter Frieden und um ein ethisches Thema, verborgen im Märchen vom „Fischer un syner Frau“, der den großen Butt fing. Runge hatte es von einer Frau auf der Insel Rügen gehört. Aber sie erzählte die Geschichte in zwei Fassungen: einmal ist Ilsebill die Maßlose, die zuletzt wie Gott sein will – einmal ist es der Fischer, der herrschen möchte, die Natur bezwingen und in den Himmel fliegen. Befragt, welches Märchen denn nun das gültige sei, sagte die Erzählerin: „Dat een und dat anner tosamen.“
An dieser klugen Antwort entzündet sich der Streit. Und flackert beim Literatentreffen im Olivaer Wald immer wieder auf, trotz Pilzesammeln und Mondbetrachten. Die Moral von der Geschicht‘ formuliert der Maler Runge: „Es ist wohl so, daß wir Menschen nur immer die eine Wahrheit und nicht die andere auch dulden wollen.“ Er verbrennt das Manuskript des Märchens.
Der exzellente Schreiber Grass trägt auch exzellent vor. Seine Dichtung – bunt, bildhaft und durchsichtig –, den klaren Gedanken, die Brillanz der Sprache genieße ich auf diese Weise doppelt. Und den Humor! Der ist hintersinnig und wirkt mit Nachhall.
Grass ist außerdem ein subtiler Zeichner. Die Orangerie in Puttbus zeigte zur selben Zeit eine Auswahl von graphischen Arbeiten. Man erkennt in den Radierungen die Gedankenwelt seiner Texte. Wie in den Texten seinen optischen Erlebnisbereich.
Eine gelungene Abrundung des Besuches von Günter Grass.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.
Schlagwörter: Günter Grass, Hiddensee, Renate Hoffman


