Das 7. Egon-Bahr-Symposium widmete sich am 23. September dieses Jahres dem brennend aktuellen Thema der „Emanzipation Europas in krisenhaften Zeiten“. Die Themen seiner beiden Panels waren „Deutschlands Verantwortung in Europa“ und „Strategische Allianzen und die neue Weltordnung“. Im Zentrum stand die Frage, wie die EU angesichts der transatlantischen Unsicherheiten weltpolitisch handlungsfähig werden kann. Und mich beschäftigte das Rätsel, warum sich der ideologische Nebel so wirksam auf die Hirne vieler Menschen legen konnte.
Der Historiker Peter Brandt wies in seinem Beitrag auf die Einsicht der 1960er und 1970er Jahre hin, dass Deutschland, beiden deutschen Staaten gemeinsam, damals drohte zu Frontstaaten und zum hauptsächlichen Schlachtfeld der drohenden Kriegskatastrophe zu werden. Nach dem Schock der Kubakrise 1962 fanden sich aber Politiker auf beiden Seiten, die es durch Berücksichtigung der Interessen und Bedrohungswahrnehmungen der jeweils anderen Seite verstanden, Vertrauen zu stiften und die Fundamente einer Ordnung der gemeinsamen Sicherheit zu legen. Egon Bahr war einer dieser weitsichtigen Politiker. Diese Fundamente sind heute zerstört, fuhr Brandt fort. Ein wichtiger Schritt dazu sei die Entscheidung der NATO von 2008 gewesen, künftig auch die Ukraine und Georgien in ihre Reihen aufzunehmen zu wollen und damit zu zeigen, dass die Sicherheitsinteressen Russlands dem Westen gleichgültig sind.
Tobias Cremer, SPD-Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Mitglied in seinem Auswärtigen Ausschuss, zeichnete ein gänzlich anderes Bild. Er erklärte gleich zu Beginn, dass er – Geburtsjahr 1992 – die Kubakrise nicht erlebt habe. Offenkundig hatte er aber auch nicht ernsthaft über ihre Lehren nachgedacht. Denn seine Rede war von einem klaren Feindbild durchzogen, das aus dem russischen Diktator und einem aggressiven russischen Imperialismus bestand. Seine simple These lautete: Putin will Diktator bleiben, „sein Leben hängt daran, dass es keine Demokratie“ in Russland gibt. Wir (also „der Westen“) müssten verteidigen, was Putin wirklich Angst macht, nämlich die Demokratie, unsere Werte. Deshalb, so Cremers Einsicht zu Kriegsbeginn im Februar 2022, kämpfe „die Ukraine für Europa“. Es handele sich bei diesem Russland um die größte geopolitische Bedrohung seit 1945. Da schien der schon totgeglaubte Geist jenes Jo Biden’schen Narrativs, „die“ Demokratie müsse weltweit gegen „die“ Autokratie siegen, durch den Raum zu wehen. Der junge SPD-Genosse setzte auf Feindbilder, um die Politik der „Kriegstüchtigkeit“ zu begründen. Er übernahm offenbar ohne innere Zweifel die Rolle des Mainstream-Ideologen.
Peter Brandt meinte dazu in der Diskussion lakonisch, er sei kein Anhänger jener dichotomischen Weltsicht. Später ergänzte Michael Staack, Professor an der Bundeswehruniversität Hamburg: Die Sichtweise, der Ukraine-Krieg stehe im Zentrum der globalen Agenda, sei nicht jene der Länder außerhalb Europas. Unter den Kriegen, die gegenwärtig laufen, sei für die Staaten des „globalen Südens“ der Krieg in Gaza der wichtigere. Die unentschlossene Haltung der EU zu Israels völlig überzogenem Vergeltungskrieg gegen die Palästinenser in Gaza und dem Westjordanland, gekoppelt mit ihrem vollen Engagement in der Ukraine, werde als ein Beispiel der Doppelstandards des Westens angesehen. Es sei Zeit, sich der Pluralität der heutigen Welt deutlicher bewusst zu werden.
Die Gefährlichkeit der Situation lässt sich mit Peter Brandt auf den Begriff bringen, dass heute, anders als in den Jahrzehnten zwischen Helsinki-Konferenz und Charta von Paris, ein Atomkrieg zufällig beginnen könnte. Das liege daran, dass das Vertrauen zwischen den einander gegenüberstehenden Lagern zerstört sei. Es gebe keine stabilen „back channels“ – informelle Gesprächskanäle – mehr. Die entstandenen Feindbilder vernebelten die rationalen Beweggründe der jeweils anderen Seite. Die Bellizisten beider Lager befeuerten den Konflikt. Wer mit der anderen Seite auch nur spreche, werde als potentieller Verräter angesehen.
In der Diskussion wurde diese Sicht durch Markus Meckel, den letzten DDR-Außenminister, aktualisiert, der die Gespräche deutscher Politiker, darunter Ralf Stegner, mit russischen Vertretern in Baku als Ausdruck eines falschen Umgangs mit Russland bezeichnete, als Fortsetzung der Fehler einer vermeintlichen sozialdemokratischen Beschwichtigungspolitik. Der anwesende Stegner widersprach dem mit dem Verweis gerade auf die Erfahrungen der Entspannungspolitik vor 1989. Das Wichtigste sei auch derzeit, einen großen Krieg zu vermeiden. Gemeinsame Sicherheit gebe es nur durch Verhandlungen mit Gegnern, bei denen man deren Interessen kennenlernen müsse, natürlich ohne seine eigenen darüber zu vergessen.
Der polnische Diplomat Marek Prawda reichte das Bild eines europäischen Kollegen weiter, der meinte, die aktuelle Politik der USA gegenüber der EU habe manchen Transatlantiker in Panik versetzt. Sie hätten den Eindruck, dass „die Sonne aus dem Sonnensystem ausgewandert“ sei. Und es sei nicht sicher, dass sie zurückkommt. Unter diesen Bedingungen gebe es keinen anderen Weg, als dass „Europa“ – also die EU – sich zu einer realen Großmacht mausern müsse. Der EU-Abgeordnete Cremer unterstütze das und erklärte, dies könne nur durch Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie geschehen.
Andere Experten hingegen verwiesen darauf, dass es mehr Sinn ergibt, Kooperationen mit den aufsteigenden Staaten des globalen Südens zu suchen, mit China und Indien. Und natürlich wäre es gut, die Beziehungen zu den USA nicht nur auf Ebene der Regierungen zu pflegen, sondern auch in die Regionen zu gehen. Insgesamt gehe es um die Verteidigung der UN-Ordnung. Dafür finde man auf jeden Fall Verbündete, sowohl in der chinesischen Regierung als auch bei den vielen kleineren Staaten, die an einer nur durch die Großmächte beherrschten Ordnung kein Interesse haben. Die UNO müsse zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der sich verändernden globalen Kräftebalance reformiert werden, wenn sie nachhaltiger werden soll. Dem veralteten Bild eines um die USA zusammengeschlossenen Werte-Westen hingegen solle man nicht nachtrauern.
Diese Diskussion zielt ins Zentrum der gegenwärtigen internationalen Politik. Sie brachte zwar keinen Konsens, aber Einsichten. Etwa darin, wie viele unter den sicher interessierten und wahrscheinlich auch gut gebildeten Zuhörern der Ideologie einer dichotomischen Welt und klaren Feindbildern anhängen. Der überschwängliche Beifall für die Ausführungen des jungen SPD-Parlamentariers zeigte das. Warum das so ist, darüber sollten wir dringend nachdenken. Meine These dazu lautet: Angesichts der multiplen Krisen suchen viele nach einer sicheren Orientierung. Und in den überlieferten Feindbildern eines bedrohlichen Russlands hofft man sie zu finden. Die Medien haben sie in den letzten Jahren erfolgreich verstärkt.
Schlagwörter: Dieter Segert, Egon Bahr, Peter Brandt, SPD, Symposium, Tobias Cremer


