28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 2025

Literaturlandschaft Niederschlesien

von Mathias Iven

Seit seiner Gründung im Jahre 2000 engagiert sich das in Potsdam ansässige Deutsche Kulturforum östliches Europa e. V. „für die zukunftsorientierte Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte des östlichen Europa“. Die von der Bundesregierung geförderte Einrichtung „will damit einen nachhaltigen Beitrag zur Stärkung europäischer Identität leisten“, wobei sie ausschließlich die Regionen im Blick hat, in denen Deutsche gelebt haben oder bis heute leben. „Im Dialog und in Zusammenarbeit mit Partnern aus Mittel- und Osteuropa“, so das Anliegen, „will das Kulturforum die Kulturtraditionen dieser Regionen als verbindendes Erbe der Deutschen und ihrer östlichen Nachbarn entdecken und einem breiten Publikum anschaulich vermitteln.“ Neben einer umfangreichen Veranstaltungstätigkeit geschieht das vor allem über die verschiedenen Publikationsreihen der „Potsdamer Bibliothek östliches Europa“.

Eine dieser Reihen ist speziell dem Thema Kulturreisen gewidmet. Neben den „Großen Kunstführern“ sind hier besonders die „Literarischen Reiseführer“ hervorzuheben. In den letzten zwanzig Jahren sind – teils in mehrfach überarbeiteter und erweiterter Form – Bände zu Oberschlesien und Galizien sowie zu Bratislava und Danzig erschienen. Der 2004 von Roswitha Schieb vorgelegte Eröffnungsband führte die Literaturinteressierten nach Breslau, in die ehemalige Hauptstadt Schlesiens. Bereits in ihrem 2000 erschienenen Buch „Reise nach Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls“ hatte Schieb sowohl Orte und Landstriche ihrer aus Schlesien vertriebenen Eltern als auch das ehemals polnische Galizien erkundet. Es folgten „Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree(2012), „Literarischer Reiseführer Böhmisches Bäderdreieck (2016) und „Schlesien. Geschichte, Landschaft, Kultur (2020) sowie die Erzählung „Der Hof (2020), in der es um das Schicksal einer aus Schlesien nach Westfalen vertriebenen Bäuerin geht.

Als Roswitha Schieb 2021 mit dem „Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen“ ausgezeichnet wurde, hieß es in der Laudatio, dass sie „wie wenige andere in den letzten zwanzig Jahren dem deutschen Publikum Schlesien nahegebracht hat“. Und so befasst sich auch ihr jüngstes Buch wieder mit dieser Region, dieses Mal speziell mit Niederschlesien. Schieb unternimmt darin einen Streifzug durch ein halbes Jahrtausend schlesischer Literaturgeschichte. Angefangen bei den Legenden des Mittelalters, über die literarischen Adaptionen der Hussitenkriege in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts führt der Weg in die Zeit der Reformation, die zahlreiche protestantische Kirchenlieddichter hervorbrachte – eine Tradition, die sich im 20. Jahrhundert bis zu Jochen Klepper fortsetzen wird.

Die wichtigsten und glänzendsten Epochen in der Literatur Niederschlesiens waren aber zweifellos, so ordnet es nicht nur Schieb ein, die Barockzeit und die Zeit der Romantik. Da haben wir Autoren wie Martin Opitz, den „Vater der deutschen Dichtkunst“, den Vanitas-Dichter Andreas Gryphius, den Mystiker Angelus Silesius, den Epigrammatiker Friedrich von Logau oder den vagabundierenden Freigeist Johann Christian Günther, nicht zu vergessen Anna Elisabeth von Schleebusch, eine der vielen Barockautorinnen. In der Romantik tauchten Namen wie der des E. T. A. Hoffmann nahestehenden Dichters Karl Wilhelm Salice-Contessa und des spätromantischen Schriftstellers August Kopisch auf. Zudem entdeckte man in dieser Zeit auch die schlesischen Sagen neu, allen voran die um Rübezahl.

In ihrem Vorwort schreibt Roswitha Schieb: „Es gibt wohl kaum eine Region in Mitteleuropa, die seit dem Mittelalter bis heute eine so reiche Literaturtradition und ein so vielfältiges Literaturschaffen besitzt wie Niederschlesien.“ Oder anders gesagt: Schlesien ist „das Land der 666 Dichter“, wie es der Germanist Rochus von Liliencron einstmals ausdrückte. Mit ihrem Buch stellt sich die Autorin der Aufgabe, den Lesern „die aussagekräftigsten, buntesten, bemerkenswertesten, deutlichsten und leuchtendsten Texte schlesischer Literatur-, Kunst- und Kulturschaffender sowie Reisender“ nahe zu bringen. Dazu nimmt sie die Leser auf fünf große Rundfahrten mit, die je einem Hauptthema gewidmet sind, das sich aus der Geschichte und Topographie des jeweiligen Landstrichs herleitet. Nur einige der wichtigsten Stationen seien hier genannt.

Beginnend am Zobten, dem mythischen Berg Niederschlesiens, führt die erste Exkursion in das vor- und frühgeschichtliche Siedlungsgebiet bei Nimptsch und über die Klöster Heinrichau, Trebnitz und Leubus nach Schweidnitz, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts mindestens ebenso bedeutend wie Breslau war.

Die zweite Tour widmet sich dem Thema „Krieg und Frieden: Locus terribilis und locus amoenus“. Von Kreisau, dem Ort des Widerstands gegen das NS-Regime, geht es zur KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen und weiter nach Jauer, wo nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges eine der prachtvollsten protestantischen Friedenskirchen erbaut wurde. Außerdem werden Grünberg, Bunzlau und Arnold Zweigs Geburtsort Glogau besucht.

Von Görlitz und dem mit dem Mystiker Jakob Böhme verbundenen Zgorzelec geht es auf der dritten Rundfahrt nach Schreiberhau, dem „Weimar des Ostens“. Die dort wirkenden Brüder Gerhart und Carl Hauptmann hatten einen nicht unwesentlichen Einfluss auf Künstler und Schriftsteller wie Bruno Wille, Wilhelm Bölsche oder den mystischen Autor Hermann Stehr, die sich allesamt dort niederließen.

Ein weiterer Streifzug steht ganz im Zeichen der Bergromantik des Riesengebirges. Es werden Orte wie die Burgruine Kynast, Warmbrunn und Hirschberg ebenso angesteuert, wie Krummhübel und Schmiedeberg, das Theodor Fontane in den 1880-er Jahren als Alternative zu Berlin und zukünftigen Wohnort ins Auge fasste.

Ziel der letzten Rundfahrt ist die Grafschaft Glatz, „die sich“, wie Schieb erläutert, „in der polnischen Literatur nach 1945, vor allem aber nach 1990 besonderer Beliebtheit erfreut“. Es geht in das frühere Zentrum der Textilindustrie um Langenbielau und Reichenbach, wo sich die Weber, deren Elend Dichtergrößen wie Heinrich Heine anklagten, schon 1844 gegen ihre Unterdrücker erhoben.

Vom „Klein-Prag“ genannten Glatz führt uns die Autorin zu den berühmten Heilbädern Bad Landeck, Bad Altheide, Bad Reinerz, Bad Kudowa und Bad Salzbrunn, nicht zu vergessen die berühmten Wallfahrtsorte Grüssau, Wartha und Albendorf.

Die Fahrt endet in Neurode, der Wohn- und Wirkungsstätte der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die 2001 in ihrer Erzählung „Stalins Finger“ über Niederschlesien schrieb: „Manchmal habe ich den Eindruck, wir lebten hier auf den Hinterlassenschaften einer uralten, weit zurückliegenden Zivilisation. […] unsere Vorgänger haben ihre Erinnerung mitgenommen, während wir in eine Welt ohne Erinnerung geworfen sind, die deshalb unverständlich ist, sich der Aneignung verweigert, nur aus Bruchstücken bestehend, die die neuen Bewohner aus vielen Gegenden mitgebracht haben.“

Unabhängig davon, ob man den Routenempfehlungen folgen möchte: Wer sich auf den Weg nach Niederschlesien macht, sei es zum Wandern oder zum Sightseeing, sollte dieses Buch unbedingt in seinem Gepäck haben.

Da auch die Autorin überwiegend die ehemaligen deutschen Ortsnamen verwendet, hat der Autor es dabei belassen, um ein Aufblähen des Textes mit in Klammern gesetzten heutigen polnischen Namen zu vermeiden.

Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Niederschlesien. Fünf Partien durch das zehnfach interessante Land, Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., Potsdam 2025, 480 Seiten, 22,00 Euro.