28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 202

Drei Notizen aus dem Spessart

von Hans-Peter Götz

Die Kleinstadt Lohr am Main wird auf der Homepage des Ortes als „märchenhaft“ apostrophiert, und da muss dem Stadtmarketing – angesichts pittoresker Gassen und Fachwerkhäuser in der Alt-Stadt – auch gar nicht widersprochen werden.

„Märchenhaft“ ist allerdings auch ganz konkret gemeint: Lohr beansprucht, Schneewittchens Heimatstadt zu sein: „Der sprechende Spiegel – Vater, Mutter, Stiefmutter und Schneewittchen – der wilde Wald und der Frischling – die Zwerge und die Berge – der gläserne Sarg – die eisernen Pantoffeln, alle Fixpunkte des Märchens ‚Schneewittchen‘ kann man mit Fakten, Daten und Örtlichkeiten belegen; mit den wissenschaftlichen Methoden der ‚Fabulogie‘ konnte der Beweis erbracht werden, dass sich unser Märchen zwischen Lohr und Bieber im Spessart abspielte, dass Schneewittchen tatsächlich eine Lohrerin war“, so Karlheinz Bartels, der 1986 mit einem Zeitschriftenbeitrag, aus dem dieses Zitat stammt, zum „Chefaufklärer“ in Sachen Schneewittchen avancierte. Es soll sich um die 1725 im Schloss der Kurfürsten von Mainz zu Lohr geborene Maria Sophia Margarethe Catharina, Freifräulein von Erthal, handeln …

Dass Medien von Beginn an (geflissentlich?) das „Augenzwinkern“ von Bartels Text übersahen, trug sicher dazu bei, dass die Sache weltweit Wellen schlug. Selbst Filmteams aus Japan besuchten im Laufe der Jahre die Stadt.

Am Außengemäuer des Gebäudes, in dem die Tourismus-Information der Stadt ihr Domizil hat, hängt ein rechteckiger Spiegel, in dem das vis-à-vis gelegene Schloss zu sehen ist. Eine Info-Tafel erklärt, dass es sich um eine Kopie des sprechenden Zauberspiegels der bösen Schneewittchen-Stiefmutter handele; das Original sei im Spessart-Museum im Schloss zu besichtigen. Dieses wiederum präsentiert auf mehreren Stockwerken eine sehr informative und liebevoll kuratierte Sammlung zur Geschichte und zum Leben in dieser bis ins 20. Jahrhundert bettelarmen Region. Im Raum 213 schließlich erfährt der Besucher alles zur Lohrschen Schneewittchen-Legende.

Apropos Zauberspiegel: In der Märchenverfilmung der DEFA von 1961 – mit 7,6 Millionen Zuschauern (bis 1990) übrigens einer der drei erfolgreichsten DDR-Märchenfilme – war der Spiegel nicht rechteckig, sondern – rund. Und zwar mit einem sehr außergewöhnlichen Design, das sich einprägte. Der Verfasser des vorliegenden Beitrages jedenfalls – er hatte den Film in seiner Kindheit und frühen Jugend mehrfach gesehen – wusste Jahrzehnte später, als er in der National Gallery in London andächtig vor Jan van Eycks „Die Hochzeit des Arnolfini“ verweilte, sofort, woher die Macher des DEFA-Films ihre Designidee für den Spiegel entlehnt hatten …

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Das idyllische, nicht sehr große Wasserschloss Mespelbrunn befindet sich in einem abgelegenen Seitental des Elsava-Tals im Spessart. Die Gemarkung gehört heute zur bayerischen Gemeinde Mespelbrunn, zwischen Aschaffenburg und Würzburg. Die Bekanntheit des Gebäudeensembles stieg Ende der 1950er Jahre sprunghaft an, nachdem das Schloss als Kulisse der Filmkomödie „Das Wirtshaus im Spessart“ – frei nach der literarischen Vorlage von Wilhelm Hauff – gedient hatte. Der westdeutsche Streifen versammelte knapp 6,7 Millionen Zuschauer vor den Kinoleinwänden, eine Anzahl, die erst Jahrzehnte später übertroffen werden sollte (1985: „Otto – der Film“).

Eine Führung durch das Schloss, das nach dem Willen der dort unverändert ansässigen Erbauerfamilie nur auf diesem Wege für touristische Besucher zugänglich ist, war für den Autor dieses Beitrages im Hinblick auf einige heute noch gebräuchliche Redewendungen mit einigem etymologischen Zugewinn im Hinblick auf die historischen, teils bis ins Mittelalter zurückreichenden Ursprünge derselben verbunden. Konkret betraf dies:

  • „einlochen“;
  • „durch die Blume sagen“;
  • „alles ist in Butter“;
  • „auf die hohe Kante legen“.

Der Baubeginn des Wasserschlosses datiert auf das Jahr 1412 und verdankt sich einer Schenkung des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau. Der übereignete am 1. Mai jenes Jahres seinem kurfürstlichen Forstmeister im Spessart, Hamann Echter, eine „Wüstung und Hofstätte“ samt Zubehör, „genant Espelborn“. Die Adelsfamilie, welche seither den Namen Echter von Mespelbrunn führt, war schon seit dem 13. Jahrhundert als sogenanntes Ministerialengeschlecht bekannt – quasi beamtete Funktionsträger, unter anderem im Dienst der Mainzer Erzbischöfe.

Zunächst errichtet wurde, so die sehr kompetente und eloquente Schlossführerin Lisa R., der heute noch gut erhaltene Bergfried, ein Wehrturm, in dem sich die Anwohner bei Überfällen verbarrikadieren und zur Wehr setzen konnten. Ein Zugang war erst ab dem zweiten „Obergeschoss“ möglich. Mittels Leiter, die hernach eingezogen wurde. Im Inneren des Turms waren durch Treppen verbundene Holzdecken eingezogen. Das fensterlose Untergeschoss jedoch diente traditionell als Kerker und verfügte über keine Treppe. Die „Beschickung“ erfolgte über ein Loch in der Decke zum ersten Geschoss. Die Eingekerkerten wurden also, so Lisa R., – „eingelocht“.

Historische Arabeske: Der Turm musste nie seiner Bestimmung gemäß zum Einsatz kommen. Weder während des 30-jährigen Krieges noch später wurde dieser Adelssitz je weder von durch die Lande ziehenden Heeren noch von marodierenden Söldnerhaufen behelligt. Womöglich eine positive Folge extremer Abgelegenheit im tiefsten dunklen und im Übrigen nur wenig besiedelten Spessart. Außer Wald wuchs auf dem kalksteinernen Untergrund so gut wie nichts. Ackerbau ist in der Gegend auch heute noch eine Herausforderung.

Der „Anbau“ des in seiner heutigen Gestalt dreiflügeligen Schlosses erfolgte erst 150 Jahre nach dem Bergfried. Den ebenerdigen Zugang zur schmalen Wendeltreppe zum Obergeschoss des Nordflügels bildet ein bestens erhaltenes Renaissance-Portal aus dem in dieser Gegend sehr verbreiteten roten Sandstein. Unter anderem mit Reliefs, plastischen Halbporträts, des Bauherrn, Peter III. Echter von Mespelbrunn, und seiner Gemahlin Gertrud von Adelsheim. Beide in eleganter höfischer Bekleidung sowie mit anderen Insignien von Wohlhabenheit, vor allem Schmuck. Peter III. überdies mit drei aufgerollten Papieren in seiner Linken, die ihn als den überdurchschnittlich gebildeten Adeligen ausweisen, der er war. Beide Eheleute halten überdies in ihrer Rechten jeweils eine Rose. Dazu Lisa R.: „In der Renaissance fiel man in den herrschenden Kreisen, was die Beziehungen zwischen den Geschlechtern anbetraf, die im Übrigen weitestgehend geschäftlich geregelt wurden, nicht mit der Tür ins Haus. Es wurde vielmehr mit Anspielungen, mit versteckten Botschaften operiert. Vieles sagte man ‚durch die Blume‘: Die Kornblume etwa war ein Symbol der Zurückweisung. Die Rose hingegen stand für gegenseitige Liebe.“

In einem der Säle im Obergeschoss – ein ausladender Kronleuchter aus buntem Venezianischen Muranoglas. Muss man, rein ästhetisch, heute nicht mehr mögen. Aber wie wurde eine derartige, gegenüber physischen Beeinträchtigungen höchst empfindliche Kostbarkeit wohl vor Jahrhunderten auf ungefederten Pferdewagen und im Wortsinne über Stock und Stein transportiert, ohne Schaden zu nehmen? Auch die Alpen waren zu überwinden. Lisa R.: „Das Verpackungsmaterial, das äußere Erschütterungen effektiv dämpfte, war – Butter. ‚Alles in Butter‘ hieß, der Gegenstand war komplett damit umhüllt, und so ging nichts zu Bruch. Zu bedauern war nur das Dienstpersonal, das den Leuchter nach dem Transport zu säubern hatte …“

Im fürstlichen Schlafgemach befindet sich ein hölzernes Baldachinbett. An der Wand direkt dahinter und nur wenige Zentimeter unter dem Baldachin ein waagerecht angebrachtes Konsolbrett: Im Spalt zwischen Brett und Baldachin, erläuterte die Schlossführerin, konnten Gegenstände sicher verstaut werden; sie wurden „auf die hohe Kante gelegt“.

Unser Rundgang fand bei hochsommerlichen Temperaturen statt – die Quecksilbersäule, wenn es sie denn noch gäbe, hätte 34 Grad Celsius angezeigt statt. Hernach, im ehemaligen fürstlichen Pferdestall, der heute ein gleichnamiges Restaurant beherbergt, war ein Glas kühles Mineralwasser mit Sprudel, das hier weder San Pelegrino noch Perrier heißt, sondern aus einheimischer Quelle stammt, ein Labsal. Und auch die Wildbratwurst mit Kartoffelsalat, der, landschaftstypisch, ohne Mayonnaise auskommt, mundete vorzüglich.

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Der (heute malerische) Ort Gelnhausen erhielt sein Stadtrecht von Kaiser Friedrich I. – dem sie auf der Apenninen-Halbinsel, die er mit insgesamt fünf Feldzügen verheerte, den ironischen Beinamen Barbarossa gaben – im Jahre 1170, das zugleich als Baubeginn der dortigen Kaiserpfalz und eines Gotteshauses gilt, das heute als Marien-Kirche die größte am Ort ist.

Mindestens zwei Söhne von bleibender Bekanntheit hat Gelnhausen hervorgebracht:

  • In der Schmidtgasse 12 erblickte 1621 oder 22 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen das Licht der Welt, der mit seinem wortgewaltigen Schelmenroman „Der abenteuerliche Simplicissimus Teusch“, handelnd in den Zeiten des 30-jährigen Krieges, zum berühmtesten deutschen Erzähler des 17. Jahrhunderts werden sollte. Eine lebensgroße Skulptur von des Dichters Protagonisten, Simplicius Simplicissimus, natürlich aus rotem Sandstein, begrüßt Einwohner wie Touris am Rande des Oberen Marktes der Stadt.
  • Eine Bronzebüste auf dem Unteren Markt hingegen erinnert an Philipp Reis, den 1834 in der Stadt geborenen späteren Erfinder des Telefons: Als erst 27-jähriger Physiklehrer hatte er am 26. Oktober 1861 erstmals einen Apparat präsentiert, der Sprache mit Hilfe des elektrischen Stromes übertragen konnte, und ihn „Telephon“ genannt.

Die auf einer Insel des die Stadt durchquerenden Flüsschens Kinzig gelegene Kaiserpfalz – zur Stabilisierung des morastigen Untergrundes waren zahllose zugespitzte Eichenbalken in den Boden gerammt worden – ist heute eine (gut erhaltene und durch Zinkabdeckungen bestens konservierte) Ruine, die zu besuchen lohnt. Von ihrem höchsten Punkt aus hat man einen guten Überblick über den Ort.

Im Durchgang zum Innenhof – ein weiterer etymologischer Merkpunkt, auch wenn die Redewendung „Stadtluft macht frei“ heute kaum mehr geläufig sein dürfte. Eine Info-Tafel klärt über diesen mittelalterlichen Rechtsgrundsatz auf: Aus Siedlungen rund um Burgen und Klöster waren etwa ab dem 11. Jahrhundert Städte entstanden. Dabei setzten sich immer mehr Leibeigene in diese ab, wo sie für ihre Grundherren zumeist unauffindbar waren. Es wurde Rechtsbrauch, dass solche Unfreien – meist ihren Grundherren entlaufene Bauern – nach einem Jahr und einem Tag nicht mehr von ihren Dienstherren zurückgefordert werden konnten und somit freie Stadtbewohner wurden.

Die Marien-Kirche (im romanisch-gotischen Übergansstil) wartet gleich mit zwei – für ein christliches und zumal katholisches Gotteshaus – gleichermaßen ungewöhnlichen Mahnmalen auf.

Vor dem Westportal der Kirche erinnert die abstrakte Skulptur „Angesichts Elisabeth Strupp“ (nach einem Entwurf der bulgarischen Künstlerin Fanna Kolarova) an die im Mittelalter besonders exzessiven, mit ausgeklügelten Folterungen der beschuldigten Frauen und Männer einhergehenden Hexenverfolgungen durch kirchliche Häscher. Die entsprechenden Prozesse führten meist zu gesetzlich sanktionierter, heute hieße das wohl: rechtsstaatlicher Ermordung durch Verbrennen bei lebendigem Leibe. Letzteres wurde als quasi Gebot christlicher Nächstenliebe gewertet: Die Opfer hätten so bis zum letzten Atemzug die Chance, ihre Sünden zu bekennen und ihren unsterblichen Seelen damit statt der Hölle das Himmelreich zu gewinnen.

Im Falle von Elisabeth Strupp (gegen Ende des 16. Jahrhunderts), der Schwiegertochter eines lutherischen Pfarrers, die Hexenprozessen kritisch gegenüberstand, fällte der damalige Ortsbürgermeister Johannes Koch das Todesurteil. Dessen Grab befindet sich an prominenter Stelle in der Kirche – hinter dem Hochaltar. Koch war schließlich nicht nur Obrigkeit, er hatte auch die Kanzel der Kirche gestiftet.

Vom Standort des heutigen Denkmals lässt sich eine gerade Linie durch das Kirchenschiff und vorbei an der Kanzel bis zur Grabplatte des Bürgermeisters ziehen – eine „direkte Verbindung“ zwischen Ankläger und Angeklagter. Das jedenfalls hat die Kirchengemeinde in ihrem GemeindeBote 2/2024 vermerkt und hinzugefügt: „Das Kreuz auf dem Lettner der Kirche, das ebenfalls auf dieser Linie steht, rückt den unschuldigen Tod von Elisabeth Strupp in die Hoffnung von Tod und Auferstehung Jesu Christi.“ Sollte es nicht besser heißen: „den Tod der unschuldigen Elisabeth Strupp“? Und gleich noch eine Frage: Wo war eigentlich Gott während des jahrhundertelangen Wütens der Inquisition?

Das andere Mahnmal befindet sich in der Kirche. Ein wuchtiger Quader aus rotem Sandstein mit seitlich herausgemeißelter Angabe „1939 – 1945“ heroisiert seit 1952 die im von Hitler-Deutschland angezettelten imperialistischen Raub- und Vernichtungskrieg gefallenen und verschollenen Einheimischen. Doch in dieser Marien-Kirche, wenn auch erst seit 2011, zumindest nicht mehr unter Ausblendung jeglichen historischen Kontextes. Seither nämlich bedeckt ein „Tuch des Leidens“ der Künstlerin Ulrike Streck-Plath den Quader. In Gestalt eines von Schienensträngen – die aus verschiedenen Himmelsrichtungen nach Auschwitz führten – geformten, hingestreckten und augenscheinlich tödlich verletzten menschlichen Körpers die Oberseite des Quaders. Ein seitlich herabhängender Schienenstrang/menschlicher Arm lässt dabei die eine Jahreszahl so erscheinen, dass sie, statt nach 1939, eher wie 1933 aussieht – historisch um einiges näher am tatsächlichen Ausgangspunkt der bis dato größten Menschheitskatastrophe.