HINEINGEBOREN
Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.
Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.
ETÜDE VON DER ABSTAMMUNG
Wir lagen im Industriehafen, nah Magdeburg-
Rothensee. Der Hund versoffen in Hamburg-
Harburg. Daumen gebrochen in Dresden-
Friedrichstadt, Alberthafen.
Die Geburt in Berlin-
Central, Interzonenverkehr, Taufe in Osthafen-
Brühe. Geschleppt rauf bis Ustí nad Labem.
Kanäle und Schleusen, Kanäle und Schleusen-
Krüge, manchmal ein geläufiges Schiffs-
Hebewerk. Manchmal auch ab durch den Mittel-
landkanal.
Man hat sich da später was einfallen
lassen, leere Wasserstraßen, die sich kreuzen.
Das war aber nach seiner Zeit, nach deiner Zeit,
nach eurer Zeit, nach meiner Zeit,
war parallel in der Unendlichkeit.
ERWACHSEN ZU SEIN
Was ist schön daran erwachsen zu sein? Vorsichtiger mit den Begriffen?
Doch einmal, in einer Sommernacht – die Luft steht still, es ist fast so heiß
wie am Tag, und sie, für die dein Herz schlägt, schläft, atmet ruhig – da also,
hellwach, du hast gelegen, legst das Buch aus der Hand, gehst an den Kühlschrank
und schenkst dir Weißwein in ein Glas, es beschlägt sofort, du nimmst das Buch
wieder zur Hand und fährst fort zu lesen, Gedichte, wirkliche, echte Gedichte.
Zu wissen, was echte Gedichte sind, das ist schön daran, erwachsen zu sein.
Uwe Kolbe, geboren 1957 in Ost-Berlin, beeindruckte 1980 bereits mit seinem ersten Gedichtband „Hineingeboren“ (Aufbau-Verlag), der Buchtitel galt als Bezeichnung für eine ganze Generation im Osten des geteilten Deutschlands, seitdem veröffentlichte er über ein Dutzend Gedichtbände, schrieb Nachdichtungen, erhielt etliche Literaturpreise, er lebt jetzt in Dresden.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Poesiealbum 394: Uwe Kolbe. Auswahl Jürgen Theobaldy, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2025.
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