Ich bin kein großer Fußballfan, aber ich kenne ungefähr die Regeln. Wenn der Ball ins Aus geht oder ein Spieler seinen Gegner foult, dann ist das Spiel vorerst unterbrochen. Ich bin auch kein großer Schachspieler, aber ich kenne auch einigermaßen die Regeln. Wenn jemand eine Figur über den Spielfeldrand hinaus zöge oder seinen Gegner vors Schienbein träte, dann wäre das Spiel unterbrochen, was im Schach aber selten vorkommt.
Was wäre nun aber, wenn eine Fußballmannschaft beschlösse, nicht aufs gegnerische, sondern aufs eigene Tor zu spielen? Es gibt keine Regel, die das verbietet. Auch im Schach ist es nicht verboten, freiwillig zu verlieren. Wenn auf einmal in der Bundesliga massenhaft Eigentore fielen, dann wäre vielleicht eine entsprechende Spielregel notwendig, was aber bisher nicht der Fall war.
Was wäre nun aber, wenn beispielsweise die Fifa beschlösse, dass ab sofort jede Mannschaft nur noch aus fünf Spielern bestehen und der Ball 90 Zentimeter Durchmesser haben soll? Oder wenn ein Schach-Dachverband festlegte, dass das Schachbrett nicht mehr acht mal acht, sondern 12 mal 20 Felder hat? Es wäre in beidem Fall dasselbe: Die Spiele namens „Fußball” und „Schach” wären vorbei, und man hätte es mit einem anderen Spiel zu tun.
In den 90ern gab es im Fußball bekanntlich das „Golden Goal”: Ein Fußballspiel, das unentschieden in die Verlängerung gegangen war, wurde durch das erste Tor beendet. Diese Regel führte jedoch dazu, dass alle ungeheuer defensiv spielten und die Verlängerungen der Spiele sich zäh in die Länge zogen. Auf einmal war da ein anderes Spiel, das nicht besonders gut funktionierte, und die Regel wurde wieder geändert.
Was wir aus all dem entnehmen können: Das Ersinnen sinnvoller Regelwerke ist gar nicht so einfach. Regelwerke folgen ihren eigenen Regeln, die Konsequenzen von Regeländerungen können selbst von Fachleuten nicht sicher vorhergesagt werden, und wenn Regeln mit der Realität kollidieren, dann gewinnt die Realität. Schach und Fußball sind Spiele mit Spielregeln. Der Rest des Lebens, also Berufsleben, Straßenverkehr, öffentliche Debatte, Balz und Partnerschaft sind keine Spiele, doch auch sie folgen Regeln, auch diese Regeln sind komplex, und auch hier gewinnt im Zweifelsfall die Realität.
Ein Spielfeld, auf dem derzeit heftig gekämpft wird, ist das der öffentlichen Debatte. Auch hier gibt es eine Realität, und auch hier gibt es Regeln. In den letzten Jahren las man immer mehr Nachrichten, in denen beispielsweise ein Bauer ein Plakat an seine Scheune hängte, auf dem „Ich mag meine rosa Schweine lieber als die grünen Schweine in Berlin” oder ähnliches stand, und er dann eine Geldstrafe aufgebrummt bekam. Es gibt Aktionstage, Hausdurchsuchungen im Morgengrauen und Geldstrafen für gehobene-Daumen- Emojis. Wer die Regierung kritisiert, steht mit einem Bein im Knast. All das ist bekannt, zur moralischen und historischen Einordnung ist alles gesagt. Wir brauchen eine wirkungsvolle Gegenstrategie. Und die ist sehr einfach. Man muss sich nur die Regeln sowie die Realität, die darunterliegt, genau anschauen.
Das Spiel nennt sich „öffentliche Kommunikation”, und es folgt wie jedes Spiel einerseits Spielregeln und andererseits Naturgesetzen. Ich kann denken, was ich will. Und ich will auch denken, was ich will und nicht das, was mir von außen vorgegeben wird. Das sind Naturgesetze, die sich nicht ändern werden. Darüber hinaus bin ich gehalten, das zu sagen, was ich meine. Ich sollte es nicht über- und nicht untertreiben, ich sollte keine falschen Tatsachen behaupten, niemanden beleidigen und nicht zu Mord- und Totschlag aufrufen. Das sind Spielregeln, die sich bewährt haben. Einige davon stehen in Gesetzbüchern, werden aber nur bei krassen Übertretungen tatsächlich bestraft. Anderes ist nicht strafbewehrt. Ich kann behaupten, die Erde wäre eine Scheibe, der Mond aus Margarine und ich selber sei der Kaiser von China, und niemand kann mich dafür belangen. In dieser Zurückhaltung des Gesetzgebers steckt Weisheit und Weitsicht. Weitsicht ist eine Eigenschaft, die man auch im Schachspiel benötigt, weil man den nächsten Zug des Gegners antizipieren muss.
Ein Gesetzgeber, der das Behaupten falscher Tatsachen unter Strafe stellen würde, müsste sich auch Gedanken machen, was beispielsweise etwaige Flacherdler dann unternehmen würden. Sie könnten das Wort „Erde” durch „Pizza“ ersetzen und fortan behaupten, die Pizza sei eine Scheibe. Vielleicht wären die Flacherdler aber noch radikaler und würden einfach die Wörter „rund” und „flach” vertauschen, und spätestens da wären wir in Teufels Küche, weil die Spielregeln des Systems „Sprache”, auf dessen Funktionieren wir angewiesen sind, ins Wanken kämen.
Wie gesagt: Die Staatsmacht ist weise, indem sie sich hier zurückhält, das Naturgesetz der Gedankenfreiheit respektiert und zudem darauf vertraut, dass die Wahrheit sich im Wettbewerb der Ideen von selbst durchsetzt. Kommunikation wird in freiheitlichen Ländern nicht mit Verboten belegt, und diese Spielregel gilt nicht von ungefähr als Errungenschaft der Moderne.
Die Gesellschaft kennt aber noch ein anderes Spiel, das ebenfalls mit Sprache operiert, aber anderen Regeln folgt. Das ist die Kunst. Als Romanautor kann ich meine Figuren die verbotensten Dinge tun lassen, und kein Polizist wird mich verhaften. Ich kann „ich” sagen und jemand ganz anderen meinen. Schon kleine Kinder verstehen das. Es wäre nicht nur dumm, sondern absurd, einen Schauspieler auf der Bühne zu verhaften, weil er eine Figur spielt, die den amtierenden Wirtschaftsminister als Schwachkopf bezeichnet. Die Darstellung des Verbotenen ist etwas anderes als das Verbotene selbst. Es lässt sich ja noch nicht mal restlos klären, wie die Darstellung denn überhaupt gemeint ist – zustimmend, ablehnend, verherrlichend oder verdammend? Die Anleitung zur Decodierung kann man wiederum nur dem Werk entnehmen.
Die Staatsmacht hat aber in der Geschichte hier trotzdem immer gern draufgehauen. Ein Schauspieler, der auf der Bühne Kaiser Wilhelm II. oder Zar Nikolaus als Schwachkopf bezeichnet, wäre unter dem jeweiligen Regime sehr wohl verhaftet worden. Künstler und Literaten wussten sich stets zu helfen und verlegten Handlungen in andere Zeiten und Länder. Es war ein ödes und vorhersehbares Spiel. Die modernen Demokratien waren weise, indem sie diese Regelungen abschafften und die Kunst zu dem erklärten, was sie ohnehin ist: Frei. Das ist wie bereits erwähnt keine Spielregel, sondern ein Naturgesetz, denn Menschen denken, was sie wollen, und wo Menschen denken, da fangen sie auch an, Geschichten zu erzählen und Lieder zu singen.
Was tun wir also, wenn der Staat in vormoderne Zeiten zurückfällt und auf einmal wieder Kommunikation unter Strafe stellen will? Ganz einfach: Wir erkennen an, dass das Spiel namens „öffentliche Kommunikation”, das wir bisher gespielt haben, mit dieser Regeländerung schlagartig vorbei ist und ein anderes Spiel angefangen hat. Und weil das nun ein neues Spiel ist, können wir die Regeln selbst bestimmen. Das können durchaus die Regeln sein, die sonst in der Kunst Anwendung finden: Ich sage das Gegenteil von dem, was ich meine, oder etwas ganz anderes, und wenn ich will, dann schieße ich aufs eigene Tor.
Wir können sogar eine noch grundlegendere Regel brechen, nämlich die, dass ein Wort genau eine Bedeutung hat. Ein Bürger, der seine Abneigung gegen die Regierungspartei zum Ausdruck bringen möchte, aber dafür nicht von der Polizei abgeholt werden will, der muss einfach nur seine Zuneigung äußern. Schon ist er erstens auf der sicheren Seite und legt zweitens die Lächerlichkeit eines Staates offen, der ein Naturgesetz, nämlich die Freiheit der Gedanken, durch Gesetze einschränken will. Wer die Innenministerin mit einem Schild abbildet, auf dem „Ich hasse die Meinungsfreiheit” steht, wird bestraft, also ist der völlig logische Schritt, das exakte Gegenteil auf das Schild zu schreiben. Eine Innenministerin, die ein Schild hält, auf dem „Ich liebe die Meinungsfreiheit” steht, ist erstens schöner, zweitens lustiger und drittens genau die wohldosierte Ohrfeige, nein, untertänigste Huldigung, die sie sich redlich verdient hat.
Hiermit also das kurze Fazit eines langen Textes: Wer seinem Unmut über die Herrschenden Luft machen will, der sollte Schimpfwörter durch Beifall, Jubel und Freudenbekundungen ersetzen. Erstens wird man trotzdem verstanden werden, zweitens gewinnt die Kritik an Schärfe, denn sie macht die Zensur sichtbar, und drittens ist es lustiger. Wir spielen hier ein Hase- und Igel-Spiel, das die Staatsmacht nur verlieren kann und bei dem sie sich außerdem lächerlich macht. Lächerlichkeit ist der Tod der Autorität, deswegen wird Satire in autoritären Systemen seit jeher verfolgt, was aber noch nie zu irgendeinem Ziel geführt hat. Ein Staat, der Symbole, also Wörter und Sätze angreift, ist wie ein Hund, der sich in den Ärmel eines Mantels verbeißt, den der Besitzer soeben ausgezogen hat. Der Gedanke zieht sich einen anderen Mantel an und geht weiter seinen Weg. Eine Regierung, die diesen simplen Spielzug nicht voraussieht, ist so dumm, dass sie sich jede Beleidigung redlich verdient hat (oder jedes überschäumende Lob, falls die Beleidigung gerade mal wieder verboten ist).
Genauso wenig, wie wir das Automobil wieder durch die Pferdekutsche ersetzen werden, werden unsere Gesellschaften sich in diesen Zustand zurückentwickeln, in dem die Staatsmacht uns das Reden verbieten kann. Es führt kein Weg zurück. Wenn der Staat es trotzdem versucht, dann zerlegen wir die Sprache und setzen sie neu zusammen, bis keiner mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Dann wechseln wir die Spielregeln und sind wir für einen Moment alle Künstler. Vielleicht ist das nicht die Utopie, die Joseph Beuys im Sinn hatte, als er meinte, jeder Mensch solle ein Künstler sein, aber trotzdem ist es ein utopischer Zustand, selbst wenn ich mir wünsche, dass er nicht allzu lang andauern möge.
Die Weltbühne, Nr. 3, Juli 2025. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Dietrich Brüggemann ist Filmregisseur, Drehbuchautor, Schriftsteller und Musiker, er lebt in Berlin.
Schlagwörter: Dietrich Brüggemann, Meinungsfreiheit, öffentliche Kommunikation, Redefreiheit


