28. Jahrgang | Sonderausgabe | 1. September 2025

Ossietzky und Tucholsky

von Roland Links

Zwei Wege – ein Ziel, so lautet der Titel des Buches, von dem ich hier berichten will und doch wohl auch berichten muß, weil ich mich dazu verpflichtet fühle – Untertitel: „Tucholsky, Ossietzy & Die Weltbühne“. Die Autorin heißt Elke Suhr. Sie „wurde 1954 in Oldenburg geboren und war Vertreterin des ASTA, als 1975 mit allen Mitteln staatlicher Gewalt verhindert wurde, der Universität von Oldenburg den Namen Carl-von-Ossietzky-Universität zu geben. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über ,Die Geschichte der Emslandlager 1933-1945’, und es war das emsländische KZ Esterwegen, in dem Ossietzky bis kurz vor seinem Tode gequält wurde. Heute bereitet Elke Suhr im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte an der Universität Oldenburg eine Ossietzky-Bibliographie und eine Ossietzky-Gesamtausgabe vor.“

Dieser Text steht unter der Fotografie eines struppigen, distanziert dreinblickenden Blondkopfes und schließt die hintere Klappe des Buches ab. Erschienen ist es bei Weismann Verlag Frauenbuchverlag GmbH München. Das alles teile ich mit, weil es mir hilft, das ganze Buch zu charakterisieren.

Denn, liebe Freunde, was wir versäumt haben – aus welchen Gründen auch immer, sei’s, daß wir es vor uns hergeschoben haben, sei’s, daß wir uns einfach nicht trauten – Jüngere wie Elke Suhr holen es nun respektlos nach. Sie pfeifen auf unsere Hemmungen!

Wir alle wissen, daß Carl von Ossietzky noch unter dem Eindruck der eben verbüßten Haft stand, als den Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übergeben wurde. Fast alle von uns wissen, daß er während dieser Haft einen weiteren Prozeß zu bestehen hatte und daß dieses zweite Verfahren durch einen Satz von Kurt Tucholsky ausgelöst worden war („Soldaten sind Mörder“). Dann aber wird unser Wissen schon unpräzise. Verurteilung oder Freispruch? Freispruch! Aber wer war denn eigentlich angeklagt? Ossietzky oder Tucho? Beide? Warum nicht der Schreiber allein? Weil der im Ausland war, der Chefredakteur aber in jedem Fall zu haften hatte. Hätte Tucholsky nicht trotzdem kommen können? Ja hätte er nicht kommen sollen?

Solche Fragen haben damals die fortschrittlichen deutschen Intellektuellen, die sich zur Gemeinde der „Weltbühne“ zählten, bewegt, und sie sind bis heute nicht verstummt. Die Zeitgenossen kann man leicht in zwei Lagern entdecken. Die einen versuchten zu verstehen und zu verzeihen, mehr oder minder scharf verurteilten die anderen. Ernst Toller war über Tucholskys Fernbleiben empört, Kurt R. Grossmann bezeichnet es – in seiner Ossietzkybiographie (1963) – als eine nie zu verzeihende Schuld und glaubt sich eines Sinnes mit dem „Opfer“. War es aber wirklich so?

Weil der Briefwechsel dieser beiden Männer nur noch teilweise erhalten ist und weil auch diese Teile erst vor wenigen Jahren zugänglich geworden sind, hält sich immer noch das Gerücht, sie hätten zueinander nicht finden können. Schon die Karten und Briefe, in denen Ossietzky 1930 seiner Frau Maud vom Besuch in Hindås, bei Kurt Tucholsky, berichtet, sprechen aber eine ganz andere Sprache. Und wenige Tage bevor er im Mai 1932 die Haft antritt, schreibt Ossietzky dem Freund im Norden: „Wir hätten uns in diesem Augenblick bändevoll zu sagen.“ Er, der Gefährdete, tröstet den in der sicheren Ferne, und er mahnt ihn: „Nur einen Wunsch aus heißem Herzen: verkrampfen Sie sich nicht, machen Sie aus Ihrem Leben keine Peter-Schlemihlgeschichte.“ Tucholskys Vertraute im schwedischen Exil, Frau Gertrude Meyer-Prenzlau, hatte fünfzehn Briefe von Ossietzky an Tucholsky und von diesem vier Kopien seiner Antworten verwahrt und 1979 der Akademie der Künste in Westberlin übereignet. Diese Bruchstücke sind unverkennbar Zeugnisse einer Freundschaft.

Elke Suhr, ermutigt von Rosalinde von Ossietzky-Palm und auch von Frau Prenzlau, hat diesen Briefwechsel interpretiert und mit seiner Kenntnis das sicher schwierige Verhältnis der beiden Männer hinterfragt.

Auf knapp hundert Druckseiten setzt sie sich mit diesen Briefen auseinander und bleibt beiden Partnern nichts schuldig. Bei einigen ihrer Formulierungen ist mir klargeworden, warum meine Generation das Tabu der gestörten Beziehung so lange – ganz sicher zu lange – respektiert hat. Wir wären nicht imstande gewesen, so voraussetzungslos sachlich zu urteilen und zu formulieren. Haben wir doch mit Kurt Tucholsky unsere eigenen bangen Erinnerungen – manche an „Fahrtenmesser“ und „Mutproben“ – bewältigt, haben „Drei Minuten Gehör“ und den „Graben“ ehrfurchtsvoll rezitiert. Viele von uns haben sich Ossietzkys kristallklare Aufsätze zum Vorbild genommen, haben versucht, wie er zu argumentieren, zu überzeugen. Wir Älteren waren und sind befangen.

Elke Suhr hat das einzig Richtige gemacht: Sie hat nicht nur ein bestimmtes, vereinzeltes Stadium dieser Freundschaft an den Brieftexten kontrollierbar analysiert, sondern auch den Entwicklungsprozeß dargelegt. Damit ist sie jeder Versuchung zur Spekulation entronnen. Diese dynamische Methode und ihre Jugendlichkeit bewahrten sie vor dem, was uns hemmt: Denkmalpflege. Respektlos spricht sie aus, daß Tucholsky den Anforderungen nicht gewachsen war, als er nach Jacobsohns plötzlichem Tod die Leitung der „Weltbühne“ übernehmen sollte. Wir haben das alle gewußt und haben es doch immer zu „erklären“ versucht. Ich auch. Elke Suhr spart sich das. Wenn Tucholsky in seinen Briefen an Mary über seinen Nachfolger jammert: „Es ist trostlos, was sie da machen, und es muß schiefgehen, es wäre gegen alle Naturgesetze, wenn es das nicht täte“, dann setzt Elke Suhr unbekümmert hinzu: „Naturgesetz war für ihn, daß es ohne ihn selbst nicht gehen würde.“ Das ist sicher respektlos, wahrscheinlich ist es undifferenziert. Aber falsch ist es nicht. Und es mußte endlich einmal gesagt werden. Dies und vieles andere auch über Ossietzky.

Diese junge Frau ist bei aller Unbekümmertheit und Härte ihres Urteils gerecht, und erst mit dieser sachlichen Gerechtigkeit öffnet sie uns den Blick für die verschämte Zärtlichkeit, die aus den am Schluß des Buches abgedruckten Briefen Ossietzkys an Tucholsky spricht. Natürlich wäre es sehr viel mutiger gewesen, wäre Tucholsky sofort nach Berlin geeilt und hätte das „ganze reaktionäre Deutschland in die Schranken gewiesen“. Ein Sieg stand aber nicht fest. Ossietzky schreibt den Freispruch nur einem Zufall zu – dass ein Katholik, ein Herr vom Zentrum, und nicht ein Nazi den Vorsitz des Gerichtes geführt hatte. Ossietzky hat den Freund in Schweden so gut verstanden, daß er, der hinter Gittern saß, den da draußen, den Verzweifelten, Entmutigten, tröstete. Und wie er ihn tröstete! Wie behutsam er ihn vor möglichen, der Situation nicht angemessenen Überreaktionen warnte, wie er sich die richtige Schützenhilfe (auf die er ja nicht verzichten konnte) mit der richtigen Munition erbat. Und Tucholsky ging auf alles ein, ließ sich leiten wie einst von Siegfried Jacobsohn.

Elke Suhr hat recht, dreimal recht, wenn sie vermutet, es habe „der Druck der Ereignisse die beiden Freunde weiter aufeinander zugetrieben, sie zu einer Offenheit gezwungen, die sie als Männer ihrer Zeit sonst nur gegenüber Frauen wagten. Ihr Briefwechsel … zeugt von intensiven politischen Gesprächen, von scharfer, gegenseitiger Kritik, von unendlichem Vertrauen und von übermenschlicher Hilfsbereitschaft.“

Wir alle wissen, daß Tucholsky nach seinen Artikeln für den verhafteten Ossietzky verstummte und daß er drei Jahre später seine letzten Briefe für diesen Freund und Kampfgefährten schrieb. Was wir bisher nicht wußten, ist in der Neuen Zürcher Zeitung vom 21./22.12.1986 veröffentlicht worden. Das Gift ist nicht am 19.12.35 eingenommen worden. Jetzt erst unternommene Recherchen im Sahlgrenschen Krankenhaus in Göteborg haben die Krankenakte ans Licht gebracht, und dort ist unwiderlegbar dokumentiert, was allerdings schon dem Obduktionsbericht hätte entnommen werden können. Kurt Tucholsky ist erst am 21. Dezember 1935 dort eingeliefert worden. Das Gift kann er erst am Vortag eingenommen haben. Demnach ist der letzte Brief tatsächlich am 20.12.35 geschrieben worden. In ihm bietet er dem norwegischen Studentenverband einen Aufsatz an, denn er hatte „den Eindruck, daß hier noch manches zu sagen bleibt – und zwar Grundsätzliches“. Es sollte auch dem Kampfgefährten in Deutschland dienen, aber die Kraft verließ ihn, Tucholsky, vor der Zeit.

Weltbühne, 31/1985

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Christoph Links.