Wenn ich am 15. Juli, dem achtzigsten Geburtstag Rudolf Arnheims, an ihn denke, wird er am Lake Michigan spazierengehen oder in seinem Sommerhäuschen am Schreibtisch sitzen, um sein jüngstes Buch abzuschließen. Es wird nicht das letzte in der langen Reihe seiner in viele Sprachen übersetzten Bücher sein. „… eigentlich versuche ich das gleiche immer wieder von neuem, solange mir Einfälle dabei zuströmen …“ lese ich in einem Brief vom Oktober 1979. Es ist keine Belletristik. Obwohl man uns doch eingebleut hat, alles in Kategorien einzuordnen, will ich Arnheims Bücher nicht unter „Fachliteratur“ registrieren. Sie sind so anschaulich geschrieben und reizen den Leser zum Weiterdenken – auch Laien wie mich hat’s dazu angeregt, Architektur und Kunstwerke mit neuen Augen zu sehen. Tucholsky hat 1928 über Arnheim geschrieben: „… er gibt uns mit leichter Hand das, was wir so selten bekommen – ,Die fröhliche Wissenschaft‘ … und trotz gründlicher Bildung schwitzt er nicht …“
Noch immer wird der emeritierte Professor der Kunstpsychologie von Universitäten, Museen, Akademien und Instituten in aller Welt zu Gastvorlesungen eingeladen. Im Januar 1978 war er in der Berliner Humboldt-Universität; und da habe ich ihn kennengelernt.
Rudolf Arnheim ist als Gast an die Universität zurückgekehrt, an der er studiert und vor fünfzig Jahren promoviert hat. Die Dissertation „Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem“ liegt noch in der Universitätsbibliothek. Als Nebenfächer hatte er Kunst- und Musikgeschichte belegt. Und er ist in den Kietz zurückgekehrt, wo er am 15. Juli 1904 geboren wurde: in der Alexanderstraße 8. Vor mir liegt Arnheims Geburtsurkunde. Sie fehlte in seinem Fluchtgepäck, als er im August 1933 Berlin verließ: mit einem Paß, in den das diffamierende „J“ gestempelt war. Eingeladen vom „Internationalen Lehrfilminstitut des Völkerbundes“ in Rom, arbeitete er an einer geplanten Filmenzyklopädie mit. Sein Buch „Film als Kunst“, 1932 bei Rowohlt erschienen, war in viele Sprachen übersetzt und hatte ihn international bekannt gemacht. Die Erstausgabe ist das einzige Buch, das Richard Groschopp aus dem brennenden Dresden 1945 retten konnte. Seit Januar 1978 steht auf dem Vorblatt: „So haben wir es also beide überstanden – Rudolf Arnheim und das Buch“.
In der Humboldt-Universität haben wir dann verabredet, wann und wo ich ihn mit meinem langen Fragebogen überfallen könnte. Unter dem 28. Februar 1978 steht in meinem Kalender: R. A. von Dresden abholen. Es ging um die Geschichte der Weltbühne, an der ich damals arbeitete, und Rudolf Arnheim ist ein Kronzeuge: Von 1928 bis 1933 war er unter Ossietzkys Leitung Kulturredakteur der Weltbühne. Angeregt vom Wiedersehen mit der Palucca in Dresden, war der Schritt zurück in die Weimarer Zeit nicht allzu groß. Ich kannte seine Elogen auf die junge Tänzerin Palucca aus den alten Weltbühnenheften.
Mitarbeiter der Weltbühne wird Arnheim 1925. Als Student reicht er „zögernd und zitternd“ Siegfried Jacobsohn ein Manuskript ein. Die ersten journalistischen Erfahrungen sammelt Arnheim in der satirischen Zeitschrift „Stachelschwein“. Unter anderem mischt er dort den „Salat“ aus ulkigen Zeitungsausschnitten, die Leser einsandten. Das war so eine Rubrik wie der „Kohl“ der heutigen Weltbühne, aber F. M.* hat das nicht nachgemacht. Sehr viel später erst hat F. M. das „Stachelschwein“ zu Gesicht bekommen und weiß erst jetzt, daß der Mann, der damals seinen Senf unter den „Salat“ mischte, der von ihm hochverehrte Rudolf Arnheim ist.
Den ersten literarischen Erfolg erlebt Arnheim bei einem Preisausschreiben, das Wieland Herzfelde zum Thema: „Was ist unsittliche Kunst?“ veranstaltet hat. Ein George-Grosz-Band war als „pornographisch“ verboten worden. Mit seinem Essay gewinnt der junge Arnheim einen Preis des Malik Verlages. Damals beglückwünschte ihn Arthur Eloesser, Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, zu diesem Erfolg: „Ich wünsche Dir, daß Du kein Schriftsteller wirst, selbst wenn Du einer sein solltest.“ Diesen Satz seines Onkels Elo kommentiert Arnheim 1980: „Hat aber nichts gefruchtet.“
In unserm Gespräch zwischen Dresden und Berlin am 28. Februar 1978 blenden wir 45 Jahre zurück: In der Nacht des Reichstagsbrandes 1933 wird der Herausgeber der Weltbühne verhaftet. Rudolf Arnheim betrachtet das letzte Foto Ossietzkys: das schmale Gesicht ist gezeichnet vom Weg durch die Folterkammern der faschistischen Konzentrationslager. Fast wörtlich wiederholt Arnheim Sätze, die er ein Jahr zuvor im Vorwort zum Buch „Kritiken und Aufsätze zum Film“ formulierte: „Ossietzky war der einzige wirkliche Held, den ich gekannt habe … Sein Vorbild als Mensch und Schriftsteller hat mich geprägt … Er war ein warmherziger Kamerad, ein selbstloser Helfer, und dazu ein Denker von bezauberndem Humor …“ Ich zitiere einen Satz Ossietzkys aus dem Brief an seine Frau Maud vom 10. Mai 1932 aus dem Gefängnis Tegel: „Bitte Grüße zu übermitteln an Arnheim, der sehr krank ist.“ Ossietzky nannte keinen andern Mitarbeiter; die beiden müssen sich gemocht haben.
Auf der Autobahn Dresden-Berlin begonnen, wird unser Gespräch bis heute in vielen Briefen fortgesetzt. Daten, Orte, Länder markieren das Bild, das ich von Rudolf Arnheim dabei gewinne. In Rom gelingt es ihm, seinen Paß verlängert zu bekommen, obwohl die Hitler-Regierung ihn „ausgebürgert“ hat. 1939 geht er nach London, um dort weiter auf das amerikanische Visum zu warten. In London erwirbt der Kunstpsychologe, Filmtheoretiker und ehemalige Kulturredakteur der Weltbühne eine neue Profession: Übersetzer für den deutschsprachigen Dienst von BBC. 1940 erreicht Arnheim die USA, was seinem Weltbühnen-Kollegen Rudolf Olden nicht mehr gelang. Auf einem englischen Schiff wollte Olden als Leiter eines Kindertransports 1940 auch nach Amerika. Die Deutschen torpedierten das Kinderschiff.
Arnheim geht mit 10 Dollar in der Tasche und ohne Aussicht auf eine Anstellung in New York an Land. Er bewirbt sich um Forschungs- und Lehraufträge an Hochschulen und hat Erfolg.
Der 28. Februar 1978 ist auch im Kalender von Peter Theek** markiert. Da hat, von Dresden kommend, Rudolf Arnheim die Redaktion der Weltbühne am Alexanderplatz besucht. Ein paar eilig benachrichtigte Autoren und die Redakteure sind die Gesprächsrunde: Mittelpunkt der Mann, der unter Ossietzkys Leitung einmal die Weltbühne mitredigiert hat. Manches war neu und glich doch wohl im Ton den Gesprächen in der alten Weltbühne: witzig, streitbar, dem Ansehen der Weltbühne verpflichtet. Jeder tat und tut es zu seiner Zeit, mit seinen Erfahrungen. – Die Weltbühnenleute aus Berlin schicken zum 15. Juli ihre Grüße und guten Wünsche an den Lake Michigan … und ich, lieber Rudolf Arnheim, danke Ihnen für die vielen freundschaftlichen Briefe.
* – F.M. – Felix Mantel, Pseudonym des Weltbühne-Mitarbeiters Lothar Kusche.
** – Damaliger Chefredakteur der Weltbühne.
Schlagwörter: Rudolf Arnheim, Ursula Madrasch-Groschopp


