Die Weltbühne wird/ist achtzig. Welche Zeitform hier zutrifft, hängt allein vom Zustelltag ab. Dennoch, ob sie gerade noch rechtzeitig kommt oder nicht, es werden ihr natürlich viele gratulieren: treue Anhänger, Weltbühnenleser, alte und junge, langjährige und neu-gierig-gewordene. Auch Weltbühnenautoren, wovon es jetzt auch schon eine vierte und fünfte Generation gibt.
Im Jubiläumsjahr der „Vierziger“ ausgerechnet achtzig zu werden, das wirkt ein bißchen ausgefallen. Oder zumindest ungewöhnlich. Für „ungewöhrilich“ aber fanden die Gebrüder Grimm mehrere Deutungen: ungewohnt, unerlaubt, unüblich, selten, regelwidrig, ungereimt. In der Geschichte der Weltbühne trifft irgendwann jede dieser Deutungen auf das Blatt zu.
Ungewohnt und unüblich sein zu wollen, das ist eigentlich schon vom ersten Heft der Schaubühne an, das am 7. September 1905 erschien, die erklärte Absicht aller Herausgeber. Eben dafür wollten und wollen sie originelle Autoren, die man notfalls „mit der Laterne suchen und mit dem Lasso einfangen“ müßte, wie seinerzeit Siegfried Jacobsohn kundtat. Sie brauchten aber weder Laterne noch Lasso, es sammelten sich um die Schaubühne, die sich im Revolutionsjahr 1918 endgültig zur Weltbühne mauserte, stets genügend „starke Geister“, um einen Ausdruck von S. J. zu benutzen, die „nach Möglichkeit annähernd gleichwertig“, aber nicht gleichartig sein sollten. So hatte es sich der Begründer vorgenommen, und sein Rezept ging auf. Gepaart mit der Gleichwertigkeit des Wissens und Könnens der Mitarbeiter (und der Ansprüche an sie), des allgemeinen hohen Niveaus also, brachten und bringen die ausgeprägt individuellen Betrachtungsweisen und unterschiedlichen Handschriften die Farbe ins Blatt, wird es interessant für den Leser mit jedem Heft, was in der Tat vergleichsweise unüblich und ungewohnt ist.
Unerlaubtes und Regelwidriges ist genug dabei gewesen. Wie anders auch sollte man sonst gegen Kaiser und Kapital, Militarismus, Faschismus und Krieg angehen, ohne die herrschenden Regeln und Tabus zu verletzen? Wie anders konnte man für tatsächliche Demokratie, individuelle und gesellschaftliche Freiheit, Humanismus und Frieden, soziale Gerechtigkeit und die freie Entfaltung von Kunst und Kultur eintreten?
Es geht nicht darum, der Weltbühne nachträglich einen Heiligenschein zu verleihen und so zu tun, als wären von ihr gar keine Irrungen ausgegangen, als habe es keine Fehlurteile gegeben, als sei alles an ihr ohne Fehl und Tadel gewesen. Das gewiß nicht. Aber wer kann schon von sich sagen, er habe, beispielsweise in der Weimarer Republik, keine Fehler gemacht? Nein, trotz aller Vielfarbigkeit der Ansichten und mancher Ungereimtheiten zu dieser Zeit, die Richtung der Weltbühne ist progressiv, es ist ihre Grundlinie. Und sie wird zusehends stärker über die Jahre, als Reaktion auf reaktionäre Entwicklungen und als Ergebnis persönlicher Erfahrungen, die Mitarbeiter und Herausgeber machen müssen. So sind denn auch die meisten der Anklagen, gerichtlichen Verfahren und Prozesse, die gegen die Weltbühne anhängig gemacht wurden, Ruhmesblätter für sie und ihre politisch-publizistische Haltung. Und es sind zugleich Schandmale für den Staat, von dem einige Leute selbst heute noch behaupten, es hätten in jener Republik besonders freiheitliche und demokratische Zustände geherrscht.
Beim „Fall Jacobsohn“ in Berlin, kurz nach der Jahrhundertwende, handelt es sich noch um eine billige Intrige, ein Rufmordunternehmen, mit dem ein junger, begabter, erfolgreicher Theaterkritiker, der zudem noch unbestechlich ist, ausgeschaltet werden soll. Seine Antwort ist die Gründung einer eigenen Zeitschrift: Die Schaubühne wird geboren. Kurz vor seinem Tod aber wird S. J. schon mit anderem Kaliber bedroht: Anklage wegen Landesverrat, weil die Herren „Völkischen“ und ihre Generale sich von der Weltbühne in ihren revanchistischen Zurüstungen gestört fühlten. Bald darauf beginnt der „Fall Ossietzky“, der schließlich mit Kerker für den Herausgeber und wenig später mit dem Verbot der Weltbühne noch nicht endet, denn inzwischen hat sich die Nacht des Faschismus über Berlin und Deutschland gesenkt. Die Weltbühne ist bei den ersten Opfern. Ossietzky und mancher andere Weltbühnenautor muß mit dem Leben für seine antimilitaristische und antifaschistische Haltung bezahlen.[1]
Die Weltbühne aber erscheint weiter im Exil, und unter Budzislawski zieht sie die einzig richtige Konsequenz: Sie wird zum unermüdlichen Mahner und Helfer für die Einheitsfront aller Faschismusgegner. Sie erwirbt sich historische Verdienste als Tribüne der Aussprache zwischen Spitzenvertretern der Arbeiterparteien. Sie ist Forum und tätiger Mitorganisator für eine Volksfront gegen Hitler.
Als sie bei Kriegsausbruch 1939 erneut vom Verbot betroffen wird und ihr Erscheinen einstellen muß, ist sich der Herausgeber gewiß, daß die Weltbühne auch Hitler überleben wird, „und eines Tages wird sie wieder in Berlin gedruckt“.
Soll man diese Konsequenz und die Zukunftsgewißheit als eine seltene Erscheinung für ein sogenanntes linksbürgerliches Blatt ansehen? Ja und nein. Gemessen an dem Pessimismus, der zu jener Zeit viele Gesinnungsfreunde und auch Zunftgenossen ergriffen hatte, der namhafte Autoren gar in den Freitod trieb, muß man die Haltung der Neuen Weltbühne schon als herausragend bezeichnen. Andererseits: Paßt sie denn noch in die alten Schemata? Hatte sie nicht selbst die Lehren aus der Geschichte gezogen und tatkräftig mitgeholfen, daß alte Fehler nicht wiederholt, sondern überwunden werden? Sie hatte längst Anschluß an die Kräfte gewonnen, die die Zukunft verkörperten.
Jedenfalls, als die Weltbühne am 4. Juni 1946 in Berlin wieder erschien, war der historische Schritt zur Vereinigung der Arbeiterparteien getan, gab es hier jetzt die Zusammenarbeit der Antifaschisten und der antifaschistisch-demokratischen Parteien im Demokratischen Block. Die Weltbühne darf für sich in Anspruch nehmen, frühzeitig und in schwieriger Situation daran mitgewirkt zu haben.
Von den achtzig Jahren sind es nun bald vierzig, daß die Weltbühne in gänzlich veränderter gesellschaftlicher Landschaft wirkt. Vieles von dem, was vormals Gegenstand von scharfer Kritik und ätzender Polemik war, existiert nicht mehr. Seit 1946 hat sie selbst, im Bund mit einem neuen antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Journalismus, an der größten gesellschaftlichen Umwälzung auf deutschem Boden aktiv mitgewirkt.
Nun ist die Weltbühne achtzig. Ist sie alt geworden?
Sie ist zwar eines der ältesten Blätter in unserem Land, aber dennoch jung und sehr lebendig geblieben. Sie hat nicht nur eine „altgediente“, treue Lesergemeinde, der Zuspruch nach den roten Heften wächst weiter.
Die Weltbühne trägt noch immer ihr altes Kleid aus den zwanziger Jahren. Ist sie deshalb altmodisch?
Das alte Kleid ist ein Markenzeichen. Es verpflichtet zu Qualität. Überschaut man die Jahrgänge der letzten Jahrzehnte, dann wird deutlich, daß die Weltbühne im Sozialismus ihre Besonderheit, ihre Eigenart erfolgreich eingesetzt hat für die neuen Werte unserer Gesellschaft und gegen die alten Bedrohungen, die von den jenseits der Grenzen verbliebenen Mächten des Kapitals ausgehen.
Die Weltbühne hat noch immer den alten Preis von 1920. Ist das noch das rechte Maß? Wir messen, gottlob, bei uns den Wert einer Sache nicht unbedingt an dem jeweiligen Preis. Geistige Nahrung gehört zum Grundbedarf.
Die Weltbühne pflegt noch immer ihren eigenen Stil. Paßt sie damit in die Landschaft? Ja, sie paßt nicht nur hinein, sie ist ein Stück davon, ein unverzichtbares und unveräußerliches Element. Ich kann nur wiederholen, was Alexander Abusch schon zum siebzigsten Geburtstag festgestellt hat: „Die Weltbühne wuchs mit dem Werden unserer deutschen sozialistischen Republik hinüber zu den Aufgaben einer Zeitschrift, die – für unsere neue Gesellschaft wirkend – ihren unverwechselbaren Platz mit allen dazugehörigen Feinheiten und Eigenheiten in der Reihe unserer Zeitschriften ausfüllt.“
Der Begründer dieses Blattes, Siegfried Jacobsohn, pflegte zu sagen: „Ein Tag ohne Kampf war kein guter Tag.“ Für die weitere Entwicklung des Sozialismus und ebenso für den lebensentscheidenden Kampf um die Erhaltung des Friedens, um die Verhinderung eines atomaren Infernos, gilt sein Motto heute nicht weniger als gestern.
Noch einmal anderthalb Jahrzehnte, und wir überschreiten die Schwelle ins 21. Jahrhundert. Ich bin sicher, wir werden als Weggefährten auch die roten Hefte dabei haben.
[1] – Siehe auch den folgenden Beitrag „Die wir nicht vergessen“.


