Den 20. Jahrestag hat die Redaktion der Weltbühne anscheinend unbeachtet gelassen, das erste Vierteljahrhundert aber würdigte sie. Ende Januar 1930 sprachen Carl v. Ossietzky, Richard Lewinsohn (Morus) und Rudolf Arnheim im Berliner Rundfunk über Geschichte und Aufgaben der Weltbühne. Die Nummer 37 vom 9. September wurde zur Jubiläumsausgabe. Wichtigster Beitrag war Kurt Tucholskys Rückblick auf die vergangenen 25 Jahre. Der Artikel begann und endete nicht zufällig mit Siegfried Jacobsohns Wort, daß das Blatt sein „geronnenes Herzblut“ wäre. Tucholsky bezog diesen Ausspruch auch auf Carl v. Ossietzky und sich, Zeichen seiner tiefen inneren Verbundenheit mit dem Gründer der Weltbühne und zugleich ein Ausdruck der Verantwortung für die kontinuierliche Weiterführung von dessen Lebenswerk.
25 Jahre Weltbühne, das bedeutete für die Redaktion in erster Linie Gedenken an Siegfried Jacobsohn. So schilderte Lion Feuchtwanger eine Auseinandersetzung mit ihm, die einige Jahre nach Gründung der Schaubühne in München stattfand. Sie diskutierten über die Beziehungen von Kunst und Politik, wobei Jacobsohn die Auffassung vertrat, daß die Kritik im Bereich des Theaters zehnmal wirkungsvoller wäre als die Kritik der politischen Zustände. Bei der Umwandlung der Schaubühne in die Weltbühne erinnerte ihn Feuchtwanger an diese Argumente, und Jacobsohn antwortete, wie Feuchtwanger berichtet, „mit dem schönen Zitat, er sei keine von den Korkseelen, die immer auf der Oberfläche ihrer einmal vorgefaßten Meinung schwämmen“. Anerkennend fügte Feuchtwanger hinzu: „Der kleine, lebendige Mann war wirklich das Gegenteil eines Prinzipienreiters; hatte er eine These noch so leidenschaftlich verteidigt, einen erkannten Irrtum gab er rückhaltlos preis.“
Zu Ehren Jacobsohns druckte die Redaktion einige seiner Schauspielerporträts und „Antworten“ aus der Schaubühne ab. Auch seinen am Beginn des 10. Jahrgangs im Zusammenhang mit einem Nietzschezitat geäußerten Wunsch, „irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender“ zu sein. „Aber ich fürchte“, fügte er leicht resignierend hinzu, „ich fürchte: es wird noch lange, lange dauern, bis ich so weit bin.“
In seinem Jubiläumsartikel geißelte Kurt Tucholsky auch die ungute Praxis einer Redaktion, „die eigne Leserschaft für die Aristokratie des Geistes zu erklären“, als eine „billige Art der Abonnentenwerbung“. Doch den Lesern der Weltbühne erwies er trotzdem seine Reverenz: „Aber es sind gute Leute unter denen, die in jeder mittleren und kleinen Stadt die ,Weltbühne‘ lesen – sie haben sich zum Glück noch kein Knopfloch-Abzeichen ausgedacht, das sie tragen, doch könnten sie sich in jedem Gespräch erkennen. Durch Unabhängigkeit des Urteils; durch Sinn für Humor; durch Freude an Sauberkeit.“ Dazu noch Erich Kästner in seinem ebenfalls in der Jubiläumsnummer veröffentlichten Gedicht „Die Zeitschrift“: „Doch ob gedruckter Intellekt / nun den des Lesers wirklich weckt, / ich sage das ganz offen: / Das weiß man nicht: Das muß man hoffen.“
Ein Heft später dankte die Redaktion in der Rubrik „Antworten“ für die Glückwünsche: „Gratulant. Vielgestaltig hast Du die ,Weltbühne‘ zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag beglückwünscht: als Mitarbeiter, als treuer Leser, als Freund, als Kollege, als Gegner, der aus Höflichkeitsgründen eine kleine Waffenpause eintreten läßt. So nimm unseren freundlichsten Dank, es ist sehr schön gewesen, wir fühlen uns geehrt, und wenn wir an diesem Tag etwas weich geworden sind, das ist ein alter Brauch, dem sich auch der Gemütsrohe nicht entzieht, und es soll nicht sobald wieder vorkommen.“
Freundlichen Zuspruch konnte die Redaktion in diesen Zeiten besonders gut brauchen. Der mutige Kampf der Weltbühne gegen Militarismus und Faschismus hatte die reaktionäre Klassenjustiz auf den Plan gerufen. Die Voruntersuchungen für den Prozeß, der dann im folgenden Jahr wegen angeblichen Landesverrats gegen die Weltbühne geführt wurde, liefen bereits.
Angesichts der 50 Bände Weltbühne, die 1930 als Ergebnis ihrer fünfundzwanzigjährigen Existenz vor Kurt Tucholsky standen, schrieb er: „… man muß schon zweimal kräftig ausschreiten, wenn man die lange Reihe abgehen will.“ Nach 80 Jahren ist diese Reihe länger geworden. Wieder ist ein Tag da, an dem die Weltbühne geehrt wird und alle, die sich mit ihr verbunden fühlen, „etwas weich geworden sind“. Aber auch das „soll nicht sobald wieder vorkommen“.
Schlagwörter: Dieter Fricke, Weltbühne


