Lieber Kurt Tucholsky,
wie sonderbar, daß Sie nun tot sind, ich Sie auf die Verlustliste setzen, Ihnen die Leichenrede halten muß. Das hatte ich nicht erwartet, als Ihr langer Schreibebrief eintraf, der erste von solcher Ausführlichkeit, und mich froh machte. Ich hatte an Sie geschrieben, wie man eine Angel auswirft, um Sie heranzuziehen, herauszulocken aus Ihrer beklemmenden Verschollenheit, hatte Ihnen erzählt, wie hier auf dem Karmel ein paar Menschen sitzen, Ihrer gedenkend und mir abends aus Ihren Büchern vorlesend, und wie wir lachen, dankbar lachen, bewundernd lachen, Kurt Tucholsky …
Sie aber lagen längst tot da, als Ihr Brief noch immer unterwegs war, als er mich traf, froh machte, mich in Gedanken mit Ihnen verband, mich umhergehen ließ mit dem frohen Gefühl: den kriege ich aus seinem Loch. Ich wollte nicht überstürzt antworten. Man muß sich innerlich zurechtlegen, was man einem Manne sagt, der so tief verwundet aufschreit, so schwer verletzt und hautlos irgendwo verkrochen sitzt, aber die erste Arbeit im neuen Jahr sollte diese Antwort sein. Persönliche Dinge kamen dazwischen, der Brief an Sie stand wichtig, erfreulich, voll Hintergedanken in meinem Kopf. Und dann kam am 2. Januar der Brief Ihrer getreuen Freunde, der anfing mit dem Satze, leider müsse man mich von Ihrem sanften Einschlafen am 21. Dezember unterrichten. Er kam? Da Sie ein Freund von den Späßen des Schicksals sind, Theobald Tiger: ich mußte ihn holen lassen, weil Strafporto auf ihm lag, ich mußte ihn sogar zweimal holen lassen, mein kleiner Junge, der mir noch nie eine unwillkommene Minute bereitet hat, brachte ihn schimpfend wie ein Rohrspatz mit seinem Fahrrad. Man hat so scharf zu trampeln, um zur Post hinauf zu kommen, und ich hatte ihm das erste Mal zu wenig Geld mitgegeben. Kurt Tucholsky, dann saß ich da und wunderte mich. Ich wunderte mich ungeheuer, einen ganzen Horizont voll, ein schwarzblaues Meer, einen sonnenvollen Nachmittagshimmel voll wunderte ich mich. Und ich wundere mich eigentlich noch heute. Ich las von der entsetzlichen Siebbeinentzündung, die Sie gequält hatte; im vorigen Winter jeden Monat eine Operation, in dieser Gegend da oben hinter der Nase, voller empfindlicher Nerven. Dann hatte man auf den Sommer am Meer gehofft, und Sie waren nach Schweden gegangen. Aber wir hatten Winter, nicht Sommer. Lange dunkle Nächte, dunkle Tage, ein dunkles Leben vor sich … da mußte man Ihnen ja wohl den Schluß gönnen, den Sie machten …
Und somit, Tucholsky, lieber tapferer Kamerad, bezaubernder Schriftsteller, bester Chansonnier der Republik, gehe ich von lhnen und an meine Arbeit. Sie hatten eine übertriebene Hochachtung und Erwartung für das, was dem Geiste möglich ist, als Sie die Emigration so bitter glossierten. Eine vage Vorstellung von etwas Ungeheurem, nicht an Aufschrei, sondern an Abwehr, beseelte Sie, als Sie verstummten, immer tiefer verstummten, den letzten Trank der Stummheit tranken. Und dabei war der Irrtum doch bloß klein gewesen: daß nämlich die Zeit der Gewaltlosigkeit schon angebrochen sei. Das ist nicht der Fall. Der Stern Erde, in den man Sie einbuddelte, hat eine Fülle tierischer Bestandteile, darunter die menschliche Intelligenz. Er braucht sie, damit sich die Menschen gegenseitig totschlagen. Aber es werden zugleich immer wieder neue geboren. Kleine Säuglinge, wie Sie einen auf einem Ihrer entzückenden Bücher abbildeten. Die Tiefe der Verzweiflung sagt nichts aus über die Sache, an der einer verzweifelt, nur über den Grad seiner seelischen Empfindlichkeit berichtet sie. Die Feststellung von Tatbeständen, daß nämlich mehr Gemeinheit in der Welt sei als sonst angenommen wird, macht den nicht gemeiner, der sie macht. Er muß sie nur verarbeiten können, die Gemeinheit nicht hinnehmen, die·Ohnmacht nicht bejahen, die Plattheit einer Gegenwart nicht bejubeln. Er muß vielmehr sein Erkenntnisvemögen schärfen, seine Unterscheidungen verfeinern, seine Richtung unbeirrbar aufspüren, und er muß, Tucholsky, lange leben, um den Sieg der guten Sache zu fördern. Das ist kein Vorwurf für einen gefallenen Kameraden, der vierzehn Jahre lang in der vordersten Reihe focht, den Schmerz, Wut und Gelächter durchblitzten wie keinen, der ein Übermaß von Pflichterfüllung in seinem Soldbuch aufweisen kann, falls in der gotenburger Erde jemand danach fragt. Es weist nur uns an, wonach wir uns zu richten haben. Daß irgendwo in einem Berliner Dienstzimmer ein Herr, den wir vielleicht sogar kennen, als Beauftragter des Goebbels sitzt und unsere Arbeit begutachtet, wie gleichgültig ist das. Laß den Müll sich freuen, laß den Müll sich ärgern. Wenn wir nur sicher sind, daß der Müll sich den Weg in die Müllgrube bahnt und daß wir ihm dabei helfen. Wer und was ihn ins Rutschen bringt … Daß er nicht Europa verschüttet, und was nach ihm·kommt, das ist die Hauptsache. Und daß es nicht zu spät kommt für die heldenhaften Jungen und Mädel, Männer und Frauen, Nichtjuden und Juden, die ihm in Deutschland die Bahn bereiten helfen, den glücklichen Rutsch.
Lieber Tucholsky, schlafen Sie wohl. Wie weh tut es mir, nicht sagen zu können, Auf Wiedersehen. Wieviel stille Tränen sind schon geflossen, weil man Sie auf die Vermißtenliste setzen muß, die Liste derer, die wir immer vermissen werden. Sie ist schon hübsch lang, diese Liste. Nach meinen Augen fragen Sie. Wie sie auch immer seien, Sie werden sie nie mehr sehen. Aber Ihren Nachruhm und Ihr Gedächtnis und den Dank an Sie, den wohl. Wer uns so lachen und zürnen machte, und just über das Lächerliche und Empörende, wer so herrlich zu spaßen und weise zu sehn vermochte wie Sie, und alles so auf Deutsch, der mag gern ausruhn wie H. Heine. Er ist ein Lebender wie er, Und somit verläßt Sie fürs Erste und Weitere Ihr Kamerad
Leider enthält die Sekundärquelle von 1985 keine Angabe dazu, in welcher Ausgabe der Exil-Weltbühne oder gegebenenfalls in welchem anderen Medium dieser Text möglicherweise erstveröffentlicht wurde.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlages, Berlin 2025.
Nachtrag der Redaktion: Wenige Tage nach Erscheinen dieser Sonderausgabe wurde uns aus einem Nachlass überraschend die Anfang der 1990er Jahre erschienene Reprint-Ausgabe der Weltbühne-Jahrgänge im Exil (1933 bis 1939) übereignet. Eine gezielte Recherche ergab, dass der hier abgedruckte Brief Arnold Zweigs an den verstorbenen Kurt Tucholsky unter der Überschrift „Antwort“ in Die neue Weltbühne 6/1936 veröffentlicht worden war. Vorangestellt wurde der Brief Tucholskys, auf den Zweig antwortete und den wir in einer unserer nächsten Ausgaben als Nachtrag zu dieser Sonderausgabe reprinten werden.
Schlagwörter: ArnoId Zweig, Kurt Tucholsky


