28. Jahrgang | Nummer 13 | 28. Juli 2025

Das britische Gift, das die Welt zum Narren hielt

von Petra Erler

John Helmer, australischer Journalist und inzwischen „dienstältester“ westlicher Korrespondent in Russland, hat ein neues Buch geschrieben: „Long live Novichok!“ („Lang lebe Nowitschok!“).

Es geht, wie sollte es anders sein, um den „Skripal-Fall“ – das angebliche Nowitschok-Attentat russischer Geheimdienstler auf Sergei Skripal, einen übergelaufenen früheren Oberst beim russischen Militärgeheimdienst GRU, und dessen Tochter Julja am 4. März 2018 in Salisbury. Helmer hat diesen Fall nie aus dem Auge verloren und über inzwischen sechs Jahre minutiös alles verfolgt, einschließlich der öffentlichen Untersuchung der Umstände des Todes von Dawn Sturgess in Großbritannien.

Zur Erinnerung: Sturgess vergiftete sich angeblich mit dem selben Nowitschok-Gift, mit dem die angeblichen Skripal-Attentäter einst dessen Außentürklinke kontaminiert haben sollen. Der Giftbehälter sei eine umgebaute Parfümflasche gewesen, so die britische Mär, die irgendwie in die Hände des Partners von Dawn Sturgess, Charley Rowley, gelangt wäre. Wie, ist bis heute ungeklärt. Dieser habe das Parfüm (eingeschweißt) seiner Partnerin Dawn Sturgess zum Geschenk gemacht. Sie besprühte sich damit am 30. Juni 2018, ging ins Badezimmer und brach dort zusammen. Sie erlitt einen Herzstillstand und in der Folge eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Später wurde offiziell eine Nowitschok-Vergiftung diagnostiziert. Am 8. Juli 2018 wurde Sturgess für tot erklärt. Am gleichen Tag, an dem sie kollabierte, wurde auch Charley Rowley als Notfall ins Krankenhaus eingewiesen. Er gilt als ein weiteres kollaterales Nowitschok-Opfer.

Die Hinterbliebenen von Sturgess, aber auch Charley Rowley, verklagten den britischen Staat auf Schadenersatz. Dieser habe nicht ausreichend für Sicherheit gesorgt, als Skripal nach einem Agentenaustausch in Salisbury angesiedelt worden war.

Wer Helmers Blog „Dances with Bears“ verfolgt, der wird in dem Buch nicht sehr viel Neues entdecken. Die meisten Kapitel sind frühere Blogbeiträge. Dadurch wiederholt sich im Buch auch immer wieder die angebliche Grundgeschichte.

Trotzdem sollte man das Buch lesen, und das nicht nur, um Helmers Arbeit zu würdigen. Denn im Buch gibt es neue entlarvende Fakten zum „Skripal-Fall“.

So fand Helmer eine Studie zu „Nowitschok A 234“ aus dem Jahr 2024. Wegen des „Skripal-Falls“ hatten sich tschechische Chemiewaffenwissenschaftler eingehend mit diesem Nervengift beschäftigt. Sie – und Tschechien kann man getrost als ein Kompetenzzentrum in Sachen Nervengifte bezeichnen – bestätigten, was der US-Chemiewaffenwissenschaftler James Poarch schon 1997 in einer geheimen Analyse geschrieben hatte, die später in Auszügen öffentlich wurde: Dieses Gift vereint die Gefährlichkeit der von deutschen Chemikern entwickelten Nervengifte, insbesondere von Soman (blitzartige Alterung), mit der Giftigkeit von VX, das amerikanischer Herkunft ist.

Die Tschechen bestätigten durch Tests, dass es kein Gegenmittel gegen A 234 gibt, das dessen enzymhemmende Wirkung im menschlichen Körper ungeschehen machen kann. Zwar kann im schweren Vergiftungsfall unter anderem durch die Gabe von Atropin der Tod verhindert werden, nicht aber eine dauerhafte körperliche Schädigung.

Helmer vertritt in seinem Buch die These, dass Skripal ein Doppelagent blieb und nach seinem Austausch erneut für Moskau spionierte. Im Gegenzug für die neuerlichen Dienste hoffte er auf Rückkehr nach Russland (und sehr wahrscheinlich auf gesellschaftliche Vergebung).

Helmer glaubt, dass Skripal durch den russischen Geheimdienst ausgeschleust werden sollte, dass der MI 6 jedoch davon Wind bekam, diese Aktion verhinderte und sich am russischen Gegner rächte, und zwar gründlich.

Auch Helmer weiß im Übrigen nicht, ob die Skripals heute noch leben.

Helmer beleuchtet leider nicht die Rolle der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW). So bleiben durchaus wichtige Fragen offen, die auch für den „Fall Nawalny“ bedeutsam sind.

Helmers Buch verstärkt die Argumente jener, die seit Jahren sagen: So, wie die Briten es 2018 aller Welt erzählt haben, sei es nicht gewesen. Die Skripals wurden nicht zum Ziel eines russischen Mordanschlags mit Nowitschok A 234. Sie wurden nicht nahezu tödlich vergiftet. Sie wurden vielmehr durch den MI 6 aus dem Verkehr gezogen.

Das jedenfalls muss man aus einer Kommunikation zwischen Julia Skripal und einem behandelnden Arzt im Krankenhaus von Salisbury vom 8. März 2018 schließen, die nicht geleugnet werden konnte, aber bis dato weithin ignoriert blieb.

Die Spuren des Giftes A 234, die OPCW-Experten in Umweltproben und durch Zerfallselemente im Blut der vermeintlichen „Nowitschok“-Opfer identifizierten, stammte mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem nahegelegenen britischen Chemiewaffenlabor von Porton Down.

Um das hinzukriegen, so meine Schlussfolgerung, brauchten die Briten Zeit. Denn nach der OPCW-Konvention (Artikel 10.9) hätten OPCW-Experten innerhalb von 24 Stunden vor Ort sein können. Das aber wurde ebenso elegant wie konsequent durch die britische Seite verhindert.

Porton Down bestritt 2018 nicht, das in Rede stehende Gift im eigenen Labor zu haben. Ein kleiner illustrer Kreis von Chemiewaffennationen in Ost und West hatte hinter dem Rücken der OPCW, also undeklariert, in ihren Laboren auch Gifte aus der „Nowitschok“-Familie vorrätig. Spätestens nach der Auflösung der Sowjetunion waren diese Gifte in den Westen gelangt und wurden dort unter größter Geheimhaltung erforscht. Es sind Gifte der sogenannten „vierten Generation“.

Auch mit Helmers Buch ist die Geschichte des „Skripal-Falls“ noch nicht komplett erzählt, aber Helmer leistet einen eigenen faktenreichen Beitrag dazu, dass sie schon sehr weit entschlüsselt ist. Deshalb ist sein Buch sehr zu empfehlen.

 

John Helmer: Long Live Novichok! The British poison which fooled the world, Selbstverlag 2025, 614 Seiten, 32,10 Euro (Amazon-Preis).