28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Sizilianische Impressionen – durchs bergige Binnenland

von Alfons Markuske, notiert in San Michele di Ganzaria

„Das alte Enna empfing uns sehr unfreundlich: ein Estrichzimmer mit Läden ohne Fenster, so daß wir entweder im Dunkeln sitzen oder den Sprühregen, dem wir soeben entgangen waren, wieder erdulden mußten. Einige Überreste unseres Reisevorrats wurden verzehrt, die Nacht kläglich zugebracht. Wir taten ein feierliches Gelübde, nie wieder nach einem mythologischen Namen unser Wegeziel zu richten.“

Goethe, Italienische Reise

 

Von Siracusa westwärts ins Inselinnere überwinden wir die Hybläischen Berge, um zur in schwer zugänglichen Schluchten unwirtlich-abgelegenen Nekropole von Pantalica zu gelangen.

Längs der Straßen erstrecken sich fette, Ende April über und über blühende Bergwiesen. Immer wieder dunkelrote Klatschmohnpartien. Auf dem kurzen Fußmarsch zu einigen der mehr als 5000 in den kahlen Fels geschlagenen Grabkammern und -höhlen identifizieren wir mit dem geballten botanischen Wissen unserer Reisegruppe: die rote Spornblume, Akanthus, Wicken, Dill, verschiedenfarbigen Klee, wilden Löwenzahn, Borretsch, Disteln, wilden Fenchel, einzelne Exemplare von Nigella damascena (Jungfer im Grünen) und Echten Apotheker-Eibisch. Dazu weitere, uns unbekannte Arten. Alles in Blüte. Auffällig jedoch in diesem Schlaraffenland an Nektar und Pollen: keine Biene, keine Hummel, kein Schmetterling. Ein fast gespenstisches Phänomen, das auch unsere jahrzehntelang ortskundige Reiseführerin nicht aufzuklären vermag.

In Pantalica bestatteten die Sikuler – ein einheimisches Volk, das vor dem Druck griechischer Einwanderer aus den Küstenregionen in abgeschiedene bergige Gegenden zurückgewichen war – ihre Toten. Die wurden mit entsprechenden Beigaben in den Kammern und Höhlen abgelegt und diese mit steinernen Platten verschlossen.

Unweit der Nekropole, auf etwa 700 Meter Höhe – große Granatapfelplantagen. Die müssen, der zunehmenden Trinkwasserknappheit auf Sizilien zum Trotz, regelmäßig bewässert werden …

Weiter geht es zum inmitten üppiger Vegetation gelegenen Bergstädtchen Noto – ein architektonisches Gesamtkunstwerk, das die Welt dem großen Erdbeben von 1693 (Blättchen 10/2025) zu verdanken hat. Es zerstörte auch hier den ursprünglichen Ort völlig. Der Wiederaufbau erfolgte an anderer Stelle, im opulenten Stil des sizilianischen Barocks und nach Reißbrett-Entwürfen, die auf einer idealisierten quadratischen Stadtplanung beruhten. Die Magistrale Notos – heute eine quirlige Fußgängerzone – ist gesäumt von inzwischen überwiegend säkularisierten Klöstern diverser Orden (Jesuiten, Benediktinerinnen, Dominikaner) und deren Kirchen, vom Dom und von Adelspalästen.

Ein Erdbeben zu Beginn der 1990er Jahre hatte die Kuppel des Doms in Mitleidenschaft gezogen, es bildeten sich sichtbare Risse, die allerdings nicht gebührend ernst genommen wurden. Worauf die Kuppel einige Jahre später ohne weitere Vorwarnung einstürzte. Gottseidank nachts – niemand kam zu Schaden. Der Wiederaufbau ließ mangels Geldes zunächst auf sich warten und dauerte elf Jahre. Allerdings nicht wegen jener Mischung aus Hybris, Inkompetenz und ausufernder Schlamperei, wie wir sie hierzulande von Projekten wie dem Berliner Airport BER oder Stuttgart 21 kennen, sondern weil die Rekonstruktion ausschließlich mit Baumethoden des frühen 18. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Doms, erfolgte. Das Baumaterial wurde aus dem ursprünglichen Steinbruch gewonnen, ebenfalls mit historischen Arbeitsweisen. Nicht zuletzt erfolgte die Ausmalung der wiedererstandenen Kuppel im Jahre 2009 durch den russischen Künstler Oleg Supereko nach historischem Vorbild – in Freskenmalweise, das heißt auf frisch aufgetragenem, noch feuchtem Putz, der beim Aushärten die Farbpigmente dauerhaft auf dem Untergrund fixiert.

Nächster Halt – Ragusa Ibla, die Unterstadt von Ragusa. Auch hier atmet alles Barock, und das nimmt nicht Wunder, wurde doch dieser Stadtteil nach dem Erdbeben von 1693, Noto gleich, ebenfalls neu errichtet. Als wir uns über den größten Platz des Ortes dem Dom nähern, fällt auf, dass er nicht im rechten Winkel zu der Freifläche errichtet wurde, sondern leicht schräg dazu. Ein architektonischer Kunstgriff, der verhindert, dass das hochgezogene Portal des Gotteshauses – auslaufend in einen Glockenstuhl, was eine für barocke sizilianische Kirchen typische Bauweise ist – den Blick auf die dahinter liegende Kuppel des Doms verwehrt.

Ein Merkpunkt für Liebhaber des Bestsellerautors Andrea Camillieri: Ragusa Ibla ist Montalbano-Stadt. Denn weil dessen so benamster Commissario, der international über eine beachtliche Fangemeinde verfügt, in einer Phantomstadt namens Montelusa wirkt, erfolgten die zahlreichen Verfilmungen der Krimi-Serie (37 Episoden in 15 Staffeln) hier am Ort. Längst werden thematische Stadtführungen angeboten.

Quartier nehmen wir für zwei Tage in San Michele di Ganzaria, einem Bergdorf mit weniger denn 3000 Einwohnern. An der Auffahrt zum Hotel erinnert ein Wandgemälde an einem mehrgeschossigen Haus an das Schicksal eines jungen sizilianischen Journalisten, der einem Mordkomplott der Mafia zum Opfer fiel.

Am folgenden Tag geht es weiter ins Inselinnere, nach Enna. Die Fernstraßen sind gesäumt von riesigen, die Hügel der Landschaft mit einem milden Grün überziehenden Schlägen kniehohen Hartweizens. Seit der Antike eine landwirtschaftliche Hauptkultur der Insel, die jahrhundertelang als Kornkammer des Römischen Reiches fungierte. Die Ernte beginnt im Mai. Danach erscheinen die riesigen Landflächen erdbraun, trocknen rasch aus und vermitteln den für Sizilien in der meisten Zeit des Jahres so typischen verbrannten Eindruck.

Ebenfalls (und nur in dieser Gegend) weit verbreitet ist der Anbau von Opuntien, Kaktusfeigen. Eigene Ernte ist wegen deren mit Widerhaken versehenen Stacheln nicht zu empfehlen. Wo die Früchte, auch in deutschen Supermärkten, zum Kauf angeboten werden, sind sie „rasiert“.

Sizilien war übrigens in ferner Vergangenheit stark bewaldet, doch bereits die Römer holzten umfänglich ab, um Baustoff für ihre Flotte und Ackerflächen für den Weizenanbau zu gewinnen. Viele Generationen später vollendeten die Spanier den Kahlschlag. Mit einer Wiederaufforstung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, wobei man auf schnell wachsenden Eukalyptus verfiel. Dass der ein tiefwurzelnder Wassersäufer par excellence ist, der bei großflächigem Anbau zur Senkung des Grundwasserspiegels führt, merkte man erst später. (In anderen Weltgegenden wurde Eukalyptus zum Trockenlegen von Sumpfland benutzt.) Inzwischen wird mit einheimischen Kiefernarten aufgeforstet …

Während der Anfahrt nach Enna passieren wir den Lago di Pergusa, den einzigen natürlichen See Siziliens. 1961, als Naturbewahrung noch ein abseitiges Hobby für Spinner war, errichtete man rund um denselben eine etwa fünf Kilometer lange Autorennstrecke.

Enna selbst, in der geografischen Mitte Siziliens gelegen, thront gravitätisch in 970 Metern über Normalnull auf dem hufeisenförmigen Plateau des Monte San Giuliano. Der Ort beherbergte in der griechischen Antike ein Hauptheiligtum der Göttin Demeter, ihrerseits zuständig für Fruchtbarkeit. Allerdings nur für deren ackerbaulichen Aspekt, wohingegen den erotischen ihre Gottschwester Aphrodite vertrat. Vom Heiligtum ist nichts erhalten; an seinem vermuteten Standort erhebt sich vielmehr seit undenklichen Zeiten ein trutziges Kastell, von dessen Turm man einen weiten Rundblick über die nähere und fernere Umgebung schweifen lassen kann. Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen – er hatte 1302 den Titel eines Königs von Trinacria* erhalten – machte häufig in Enna Station. Doch nicht in der spartanischen Burg. Am anderen Ende des Plateaus hatte er seinen eigenen achteckigen Wohnturm, dessen unterer Teil noch steht.

Anschließendes Ziel unserer Rundreise ist die Villa Casale bei Piazza Armeria, ein mondäner Komplex am Hang des Monte Magone – mit Prunksaal, Therme und Sitzlatrine ohne Schamwände, so dass man sein Gespräch während der Geschäftsverrichtung nicht unterbrechen musste, während die Spülung mit dauerhaft fließendem Wasser für ein hygienisch wie olfaktorisch bereinigtes Ambiente sorgte.

Vermutlich handelte es sich um den Sommersitz eines steinreichen römischen Aristokraten. Allein etwa 3500 Quadratmeter gut erhaltener altrömischer Fußbodenmosaike aus dem vierten Jahrhundert (keine abstrakten, sondern ganz überwiegend figürliche Motive: Menschen, Tiere, Pflanzen) sind zu bewundern. Darunter ein Raum mit acht turnenden jungen Frauen, deren spärliche zweiteilige Bekleidung 1946, als der französische Modedesigner Louis Réard seine Kreation Bikini präsentierte, doch tatsächlich für eine Weltneuheit gehalten wurde …

Die Besichtigung des Komplexes an einem normalen Dienstagnachmittag Ende April verlangt dem Besucher physisch einiges an Stand- und Durchsetzungsvermögen ab, wenn sich neben zahlreichen weiteren Touristengruppen auch noch kopfstarke Kohorten von Grundschülern, die ihre Gruppenzugehörigkeit durch farblich einheitliche Basecaps (in unserem Fall blaue, gelbe und orange) demonstrieren, über die schmalen, verwinkelten Besucherstege oberhalb der Mosaikböden schieben. Doch der grandiose Eindruck der antiken Artefakte lohnt die Tortur allemal.

Wird fortgesetzt.

 

* – Trinacria ist der von Griechen geprägte antike Name Siziliens. Der Begriff bedeutet dreizackig – bezogen auf die Form der Insel mit ihren Endpunkten Kap Pachino, Kap Peloro und Kap Lilibeo. Zeichnerisch schon von alters her symbolisiert durch einen weiblichen Kopf, aus dem symmetrisch drei angewinkelte menschliche Beine hervorragen.

 

Teil I dieser Reisenotizen erschien im Blättchen 10/2025.