28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

„Felix Krull“ wiedergelesen

von Klaus Hammer

Eine vierzigjährige Entstehungszeit (1911-1955) haben „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ – so lange hat sich Thomas Mann nie wieder mit einem Projekt beschäftigt. Ein erster Teil, der knapp die Hälfte des Textes umfasste, wurde 1910-13 geschrieben. Dann wandte er sich der Novelle „Der Tod in Venedig“ zu und ließ den Krull-Stoff lange Zeit liegen. Erst 1951 nahm er die Arbeit wieder auf und veränderte den Charakter seiner Hauptfigur: Er ließ Krull, diesen anziehenden, phantasiebegaben und geschickten Jungen, der die Welt , die Menschen und ihre Schwächen durchschaut, vom betrügerischen Hochstapler zum fast exemplarischen Lebenskünstler werden. Der Reiz des Romans besteht gerade in der überlegenen Ironie, mit der die einzelnen Abenteuer reflektiert werden. Hier verbinden sich ironisch gespiegelter Schelmenroman und Bildungsroman-Parodie miteinander. Der Untertitel „Der Memoiren erster Teil“ deutet zwar auf eine Fortsetzung des abrupt endenden Romans hin, die aber wurde durch den Tod des Autors 1955 verhindert.

Dem Roman fehlt, was die Struktur des Bildungsromans zuallererst ausmacht: die Entwicklung. Dieser Held entwickelt sich nicht. Wie von ungefähr fallen Krull alle seine „Talente“ zu, er braucht sich ihrer nur zu bedienen. Am Ende ist er, was er am Anfang war; Wandlung oder Umkehr findet nicht statt. Wie ein Schauspieler agiert er auf der Bühne des Lebens, die Gesellschaft ist für ihn nur Kulisse – und er glaubt entsprechend darüber verfügen zu können. Im Operettentheater hat der junge Felix Krull einst die „Frau Welt“ in Gestalt des prächtig anzusehenden Operettenstars Müller-Rosé kennen gelernt. Doch wie vulgär und abstoßend wirkt dieser, abgeschminkt von seiner Rolle, hinter der Bühne. Krull beginnt die Welt zu durchschauen und sich gefügig zu machen, indem er sich selbst als schöner Schein darstellt. Es ist Täuschung in der Täuschung, „pour corriger la nature“, heißt es bei Thomas Mann (wir kennen diesen Ausdruck aus Lessings „Minna von Barnhelm“). Krulls Handlungen sind Akte bewusster Inszenierung, die das Leben für die angenehme Illusion durchlässig machen. Ist das Betrug? Der Begriff „Hochstapler“ kommt im Roman eigentlich nur im Titel vor. Krull selbst sieht sich als Künstler des zweckfreien Schönen mit rein ästhetischer Rechtfertigung. Und der geschickte Betrüger, der Juwelen stiehlt, unter falschem Namen eine Weltreise antritt und sich seine angenehme Wirkung auf andere Menschen in jeder Weise zunutze macht, scheint bei denjenigen, mit denen er zusammentrifft, auf willige Mitspieler zu treffen, die das Spiel nur allzu gern mitspielen wollen. Die Welt ist Lug und Trug, sie will betrogen werden. Und sie kommt dem schönen Schein nur allzu bereitwillig entgegen, da sie scheinbar des Betruges bedarf. Krull ist nicht mehr der an und in der bürgerlichen Gesellschaft leidende Künstler, der das trügerische Treiben erkennt und dem dadurch das Leben verwehrt ist – wie der Außenseiter Tonio Kröger in der gleichnamigen Novelle (1903) oder der geistige Leistungsethiker Gustav von Aschenbach in „Tod in Venedig“ (1912), der als Hochgestiegener tief fallen wird. Krull durchschaut die Welt und vermag mit ihren Erscheinungen zu spielen. Er ist aber auch kein Erlebniskünstler, sondern Parodist, er schafft ja nicht, sondern imitiert. Sein eigentliches Kunstwerk ist die Selbstinszenierung.

Bereits den Diebstahl im Delikatessengeschäft, den er in seiner Kindheit begangen hat, deutet Krull in „freie und traumhafte Griffe in die Süßigkeiten des Lebens“ um. Noch als Jugendlicher im Hause seines Vaters, eines betrügerischen Schaumweinfabrikanten, erlebt er das erste erotische Liebeserlebnis mit dem Hausmädchen Genovefa. „In der Tat grenzte meine Begabung zur Liebeslust ans Wunderbare“, stellt Felix Krull fest, seine Begabung dient nicht nur dem eigenen Genuss, sondern vermag die jeweilige Partnerin in ungewöhnlichem Maße zu beglücken. Und so lustvoll geschieht auch seine Vereinigung mit den Erscheinungen der Welt. Die Lust der Imagination, der freien Phantasie ist Ausdruck von Macht über eine beschränkte Wirklichkeit. Er selbst, Felix, ist der Zauberer des Glücks (Zauberer ließ sich Thomas Mann im Familienkreis selbst gern nennen). Alle anderen haben mit ihm mitzuspielen. Felix erhält tatsächlich eine Anstellung in dem noblen Hotel „St. James & Albany“ in Paris, ein Hotel der obersten Klasse, in dem nur die feine Gesellschaft verkehrt. Hier steigt er schnell die Karriereleiter empor: Erst Liftboy, avanciert er bald zum Kellner und hat in dieser Position manches vom gewandten Mundschenk und Götterboten Hermes (Hermes ist ja in der griechischen Mythologie Beschützer der Reisenden, Händler und Diebe, also ein Grenzüberschreiter von Natur), bei dessen Anblick die gehobenen Gäste selbst Krulls niedere Stellung vergessen. Zudem hat dieser sich aber rechtzeitig eine zweite „Existenz“ geschaffen, dank derer er ein Doppelleben führen kann. Denn noch während der Fahrt nach Paris stiehlt Felix einer Dame deren Schmuckkästchen. Diese Dame sieht er ausgerechnet im „St. James & Albany“ wieder, und ausgerechnet sie begehrt Felix zum Liebhaber. Sie empfindet eine köstliche Lust der Erniedrigung dabei, von Felix, ihrem lieblichen Hermes, bestohlen zu werden. Und diese Beute, neben den Erträgen einiger weiterer kleiner Diebstähle in den Zimmern reicher Damen, verhilft Felix zu einem kleinen Vermögen, mit dem er das Leben eines Dandys führen kann.

Doch dann beginnt Felix mit einer folgenreichen Bekanntschaft seine nunmehr professionelle Laufbahn als Hochstapler. Der Marquis de Venosta, ein junger Adliger, den seine Eltern wegen einer unstandesgemäßen Liebesaffäre auf eine Weltreise schicken wollen, bietet Felix an, ja er bittet ihn förmlich darum, in seinem Namen zu reisen, damit er selbst bei seiner Geliebten in Paris bleiben kann. Felix willigt ein und begibt sich als Marquis de Venosta auf vornehme Weltreise. In Lissabon nimmt Krull-Venosta die Gedanken von Professor Kuckuck über die Unsicherheit der menschlichen Existenz und die fließenden Übergänge des Lebens amüsiert auf und vermag sogar den von politischen Sorgen geplagten portugiesischen König bei einer Audienz aufzuheitern. Doch seine Memoiren schreibt Felix Krull aus dem Zuchthaus, nachdem er als Betrüger entlarvt und zur Verantwortung gezogen worden ist. Aber selbst aus dieser Perspektive ist sein Blick auf Welt und Leben – und auf sein eigenes Leben – wohlwollend und heiter. Nur „müde, sehr müde“ ist er, sein Werk ist getan. Diese naive Weltliebe, diese Unschuld kann er sich bewahren, weil für ihn die Gegenüberstellung von unversehrtem Individuum und korrupter Gesellschaft, die vor allem den Schelmenroman kennzeichnet, nicht gilt. Felix simuliert und lügt, er stiehlt, betrügt seine Umwelt, lebt falsche Existenzen, doch er tut es mit reinem Gewissen und ohne zwischen Gut und Böse zu trennen. Sein Leben funktioniert nach den Gesetzen des Trugs und des schönen Scheins. Die meisten Menschen leben in Täuschungen, Trugbildern und Illusionen, von denen sie sich leiten lassen, derer sie sich aber nicht bewusst sind. Felix Krull manipuliert diese unbewussten Bilder und Wünsche durch eine gekonnte Selbstinszenierung.

Parodieren Krulls Aufzeichnungen eigentlich Goethes Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“, so ging Thomas Mann von einer ursprünglichen Goethe-Parodie zu einer Selbstparodie über. Die Krull-Figur dient ihm nun auch dazu, sich selbst zu bespiegeln – er ließ in ihr seine eigene Schauspielernatur, seine Wunschträume vom Zauber des Rollenspiels Gestalt werden. Das erzählerische Versteckspiel, das Thomas Mann so meisterlich beherrschte, zielt darauf, ebenso zu verbergen wie zu enthüllen. Auch sein Bekennen bleibt noch ein Spiel. Der Krull-Roman, der ihn fast ein halbes Jahrhundert beschäftigte, fasziniert nicht, weil er den Autor entblößt, sondern weil er sich mit dem Leser augenzwinkernd darüber verständigt, dass Krull auch sein Medium – also das des Lesers – sein könnte. Denn Hand aufs Herz, steckt nicht auch in uns so ein Stück Felix Krull? Spielen wir nicht auch – irgendwie, irgendwann – Theater? Machen wir uns und unserer Umwelt mitunter nicht auch etwas vor, wenn uns die Wirklichkeit zu hart bedrängt? Verwandlungskunst und Selbstinszenierung gehören auch zu unserem Alltag. Der Krull-Roman hält noch heute der Gesellschaft – möchte sie wirklich betrogen werden – den Spiegel vor.

Ein Leseerlebnis, das nicht nur die Gedanken- und Lebenswelt des Autors Thomas Mann erschließt, sondern auch manchen Aufschluss über uns selbst zu vermitteln vermag.