28. Jahrgang | Nummer 9 | 5. Mai 2025

Theaterberlin: Helene Weigel

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Helene Weigel zum 125. Geburtstag

***

„Eines der größten dramatischen Genies“

Ein hässliches Entlein; und ans Theater will es obendrein. Unmöglich! Alle Welt ist dagegen. Umso hartnäckiger insistierte die Wiener Gymnasiastin Helene Weigel bei allen Burgschauspielern, derer sie habhaft werden konnte. Doch ohne elterliche Zustimmung kein Unterricht. Um dem Dilemma eines mit geradezu Hysterie verfolgten, nach allgemeiner Ansicht jedoch aberwitzigen Berufswunschs ein Ende zu bereiten, arrangierte Helenes Schulleiterin Eugenia Schwarzwald ein Vorsprechen bei Theaterdirektor Arthur Rundt. So tolerant und aufgeklärt die berühmte Reformpädagogin war, den Drang ihrer Schülerin zur Bühne hielt auch sie für irrig.

Die denkwürdige Vorstellung fand eines Nachmittags im Dezember 1917 statt; anschaulich dokumentiert durch die dänische Schriftstellerin Karin Michaelis, eine Freundin der Schwarzwald und – seltsame Fügung des Schicksals – 16 Jahre später Asylgeberein der vor den Nazis flüchtenden Brecht-Familie.

Anfänglich ist Michaelis entsetzt über den Anblick der vor Lampenfieber geradezu „unmanierlich erregten, mürrischen“ Bewerberin. „Ihre Bewegungen erinnern in ihrer Unbeholfenheit an die des jungen Flusspferdes, wenn es an Land ist. Diese groben, frostgeschwollenen Hände, dies sture, strähnige Haar, dies tote Gesicht, dieser hängende Körper! Das Mädel will sich das Leben nehmen, wenn man ihr nicht erlaubt, eine Probe abzulegen. Wir versanken für sie in den Erdboden.“

Dann der Umschwung, als Helene loslegt: „Ihre große Stirn zitterte nervös, wie Milch, die Haut zieht. Die Pupillen wuchsen, schossen lange kalte Strahlen. Die Lippen spannten sich wie ein Bogen, bereit, vergiftete Pfeile zu entsenden. Der hängende Körper reckte sich, bekam Haltung, bekam Majestät. Eine Stimme – eine in Töne aufgelöste Seele begann schwach, beinahe flüsternd: ‚Dein Schwert ist von Blut so rot! Edward! Edward!‘ In der Kehle dieses hässlichen, unbeholfenen Mädchens ist der ganze Bann der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Eine solche Stimme macht wilde Tiere fromm, macht Steine erbeben.“ – Direktor Rundt urteilte kurz und knapp: „Ihnen rate ich nicht ab, zur Bühne zu gehen. Unterricht brauchen sie nicht.“ Erst abends, beim Wein, fielen die vielzitierten Worte: „Eines der größten dramatischen Genies, die jemals geboren worden.“

 

Endlich fort von Zuhause

Das ungestüme Großtalent nahm, entgegen dem Rundt’schen Rat, noch ein Jahr lang Schauspielunterricht, um anno 1919 – „endlich!“ – das gutbürgerliche Elternhaus in der Wiener Berggasse zu verlassen (paar Häuser weiter wohnte Sigmund Freud), um ins hessische Frankfurt zu gehen: Erst Neues Theater, dann Schauspielhaus.

Drei Jahre später rief das Preußische Staatstheater; hinzu kamen Engagements an allen wichtigen Berliner Bühnen. Die Kritik schüttete Lorbeer. Unter der Hand avancierte sie gar zur „lärmendsten Schauspielerin Berlins“, was ein Lob sein sollte. Arnolt Bronnen sah sie als „sengenden Wüstenwind“; Julius Bab fand sie „so stark im Physisch-Ungebärdigen, so zart im Seelisch-Verstockten und Versteckten“. Und Alfred Kerr rühmte ihre „große Kunst“ als „Zusammenguss von Redenkönnen und Gefühl, von Technik und Innenmacht“.

Die Weigel war ein aufsteigender Star des expressionistischen Theaters, war Avantgarde, als sie 1923 Bertolt Brecht kennenlernte, mit dem sie ein avanciert antibürgerliches Lebensgefühl verband. Sowie Sympathie für die Kommunisten. Sechs Jahre später heirateten sie. Mit Rücksicht auf andere intime Frauenbeziehungen Berts heimlich.

Unter dessen Einfluss begann, wie er begeistert bemerkte, Helene Weigels „Abstieg in den Ruhm“ – gemeint ist die Raffinesse der Vereinfachung ihres Spiels. Ihre Fähigkeit stilisiertes und realistisches Theater zu verschmelzen. Und, so Brecht, einfachste Arbeiterfrauen (ihre berühmteste Rolle war die der Mutter in einem Stück nach Gorkis Roman) so anmutig und edel wie Königinnen zu spielen und dann wieder Königinnen des klassischen Theaters (wie Stuart oder Lady Macbeth) mit viel Humor in schlichtester Menschlichkeit. „Sie brachte den Eindruck des Edlen hervor durch Darstellung der Bemühung um das Edle, den Eindruck des Guten durch Darstellung der Bemühung um die Verbesserung der Welt.“

Was alsbald „epische Spielweise“ geheißen wurde und meint, dass über konzentrierte Körpersprache Geistiges wie Soziales einer Figur ausgedrückt wird, nahm Alfred Kerr voraus in seiner Bemerkung über die grandiose Weigel’sche Verschmelzung von Technik und Innenmacht, also Willen und Kreatürlichkeit. Weigels Abschied vom herzzerreißenden, das Publikum besonders faszinierenden Psycholärm (Brecht: „Glotzt nicht so romantisch!“), ihre ins Universelle gehende Stilisierung (abgeschaut fernöstlicher Spielweise) war Anreiz für die Entwicklung der Brecht’schen Dramatik: seines epischen Theaters. Was freilich schon früh kritisiert wurde als „schematisches, dogmatisches Spiel“. Oder gar als „Verkitschung“.

 

Managerin, Prinzipalin, Gattin

Doch zunächst kam Hals über Kopf der Bruch: Die Emigration. Übergroß in dieser schweren Zeit war die Leistung der „alten Chineserin“, so Therese Giehse über ihre Busenfreundin, die Brecht-Kommune zu versorgen und Produktionsbedingungen aufrecht zu erhalten. Ihre lebenslange Loyalität gegenüber dem Ehemann samt seiner Mitarbeiterinnen im Status offizieller Nebenfrauen begriff sie – entgegen feministischer Beurteilung – nicht als masochistische Fügung in die Demutsrolle einer Dienerin in Sachen Kunst und Versorgung. Sondern als Ausdruck einer Emanzipation, die nicht eheliche Zweisamkeit, sondern Kameradschaft, Verlässlichkeit, geistige Übereinstimmung für zwingend hält. Obgleich es im Alltag wohl nicht immer leicht war mit dem Teilen-Müssen …

Helene Weigel, die gern die gütige, schlitzohrige und im Prinzip eisenharte Chefin herauskehrende Weltberühmtheit, vermochte nach Rückkehr des Familienclans aus der Emigration das der DDR-Regierung abgerungene Theaterhaus Berliner Ensemble für kurze Zeit in die Weltklasse zu katapultieren. Und war nach den 16 schweren spielfreien Exiljahren (für Brecht die produktivste Zeit als Autor) aus dem Stand heraus phänomenal präsent.

Doch es gelang ihr nicht, das BE als Brecht-Bühne auf Dauer lebendig zu halten. Die einst grandiose Neuerin wurde zur Konserviererin ererbter Muster. Dabei lag sie am Lebensende mit fast allen, mit Dogmatikern wie Freidenkenden, mit Feinden wie Freunden, meist schwer im Streit. Der politische Druck führender DDR-Berliner Genossen machte die Genossin Avantgardistin letztlich klein. Trieb sie, trotz freilich diskret widerständiger Drohgebärden, in den Opportunismus, zerrieb das aufklärerische Projekt BE. Doch zuletzt noch, mitten im Kalten Krieg, schaffte sie das Kunststück, Brechts Gesamtwerk in Ost bei Aufbau und West bei Suhrkamp herauszubringen. Textgleich!

 

Schroff, mutig, zuverlässig

Übrigens, die Weigel mit ihren verblüffenden Fähigkeiten zu gegensätzlichen Auftritten als androgyner Vamp mit Zigarette im Mundwinkel, als verhärmte Proletin, durchtriebene Prinzipalin und couragierte jüdische Mamme – diese kühne, stolze Frau hatte testamentarisch verfügt, zu Füßen des Gatten auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof begraben zu werden. Sie starb eine Woche vor ihrem Geburtstag am 6. Mai 1971. Und man bettete sie unter einem stattlichen märkischen Feldstein. Doch dem Brecht zur Seite, der 1956 von ihr ging. Und die Gefährtin beschrieb als „großartig, schroff, mutig, zuverlässig… unbeliebt.“ – Die vertrackt Brecht’sche Dialektik.

Jetzt, zu Helene Weigels 125. Geburtstag am 12. Mai, wird der neu hergerichtete BE-Hof zwischen historischem Theaterbau (1892), Neuem Studio-Theaterhaus (2023) und saniertem Probengebäude nach ihr benannt. Ein Idyll mit frischem Grün unter alten Bäumen und mit Ausschank für Theaterleute und Publikum. Freilich, die fürsorgliche Intendantin hatte zu ihrer Zeit da auch schon Tisch und Stühle hingestellt. Doch die pittoreske Pflasterung mit Altberliner Katzenköppen, das gab’s damals noch nicht.– Und nicht die HW-Skulptur; sie wird demnächst hier errichtet.

Am 11. Mai veranstaltet das BE eine Weigel-Hommage; u.a. mit Katharina Thalbach und Vorabmaterial des Filmporträts „So wie es ist, bleibt es nicht – Helene Weigel“ von Maria Wischnewski.