„Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.“
Goethe hat den Satz geschrieben und liebte ihn. Als er 1775 nach Weimar wechselte, ging es dem arbeitslosen Dichter um eine Festanstellung. Der Vater sperrte ihm alle Zuwendungen und die mütterliche Frohnatur reagierte skeptisch. Doch keine Seite mochte auf die familiäre Bindung verzichten. Goethe fand eine originelle Lösung! Man weiß ja viel über die zärtlichen Beziehungen zwischen ihm und der Frau von Stein. Charlotte von Stein hegte und pflegte ihren 1772 geborenen Lieblingssohn Fritz so innig, dass sie ihn Goethe quasi als Liebespfand und Ziehsohn anvertraute. Goethe nahm den aufgeweckten Jungen 1783 in seine Wohnung am Weimarer Frauenplan auf und hatte bald eine der ihm eigenen genialen Ideen.
Er animierte Fritz, briefliche Kontakte zur Mutter Elisabeth Goethe in Frankfurt aufzunehmen und zumindest teilweise die eigentlich ihm selbst obliegenden Korrespondezpflichten auf spielerische Weise zu erfüllen. Fritz kam dem Wunsch seines großen Vorbilds nach und schrieb Goethes Mutter einen Brief. Elisabeth durchschaute die listige Absicht ihres „Hätschelhans“ und ergriff selbst die Offensive. Am 9. Januar 1784 antwortete sie, nannte Fritz ohne Umschweife ihren „lieben Sohn“ und lobte sowohl ihren Wolfgang als auch Fritz für deren harmonische Lebensgemeinschaft. Was konnte sich eine Mutter Besseres wünschen! Dann wurde “die Räthin“, wie man sie gerne nannte, konkret: „Sie, mein kleiner Freund, könnten nun da ein großes gutes Werk thun, – zumahl da Sie mich lieb haben, so wird es Ihnen gewiß nicht sauer ankommen, hören Sie, lieber Freund, meinen Vorschlag, – da Sie beständig um meinen Sohn sind, also mehr von ihm wissen, als Jeder andere, wie wäre es, wenn Sie so ein kleines Tagebuch hielten, und schickten es mir alle Monath […].“
Das Spiel war eröffnet! Fritz, damals zwölf Jahre alt, reagierte prompt und es wäre wunderlich, wenn Goethe nicht die Feder geführt hätte! Schon vier Wochen später konnte Mama Elisabeth das erste Dossier aus Weimar auswerten. Klug ermahnte sie ihren neuen „lieben, lieben Sohn“, ja nicht in seinem Eifer nachzulassen und den Faden alle vier Wochen weiterzuspinnen. Sie kommentierte das erste Beweisstück seiner mitteilsamen Treue: „Die Zeichnung von Ihrer Stube hat sich recht gut conservirt, – sie liegt auf meinem Arbeitstisch und in Gedanken bin ich gar öfters bei Ihnen.“ Sie ermunterte ihn mütterlich, „grüßen Sie meinen Sohn vielmahls, und glauben, daß ich ewig bin Ihre treue Mutter E. Goethe“. Fortan sprudelte es aus Fritz nur so heraus und er schickte alle Dokumente, die er über Goethes Reisen nach Ilmenau und den dortigen Bergbau erhaschen konnte. Die Räthin lobte, sie hätte noch nie einen derart „lieben, fleißigen Correspondenten“ gehabt und stachelte ihn an: „[…] die kleinste Begebenheit, die Sie mir berichten, hat mehr Reiz für mich, als Alles, was sonst in der weiten Welt passiren mag“.
Von Brief zu Brief nahm das Vertrauensverhältnis zu, so dass Elisabeth dem Jungen direkte Handlungsanweisungen geben konnte: „Es wäre mir gar lieb, wenn Sie mit meinem Sohne nach Eisenach gingen, da erführe ich doch auch wie es da herginge […].“ Mit vorsichtigen Worten versuchte sie sogar, durch Fritz Informationen über Goethes Dichtungen zu erlangen. Außerdem gab es noch ein delikates Thema. Goethes Vater war im Jahre 1782 gestorben. Seine Mutter ging eine Beziehung mit dem Schauspieler Carl Wilhelm Ferdinand Unzelmann ein. Elisabeth musste davon ausgehen, dass Fritz auch etwas darüber erfuhr, wie Goethe dazu stand. Das wollte sie genau wissen und unterbreitete den verführerischen Gedanken, Goethe und Fritz sollten sie doch in Frankfurt besuchen, da ihr selbst aus vielerlei Gründen eine Reise nach Weimar unmöglich war. Sie lockte ihn mit gezielter Ungewissheit und mit der Avance: „Die Vorsehung hat mir schon manche unverhoffte Freude gemacht, und ich habe das Zutrauen, daß dergleichen noch mehr auf mich warten, – und Sie und meinen Sohn bei mir zu sehen, gehört sicher unter die größten, – und ich weiß gewiß, meine Hoffnung wird nicht zu Schanden.“
Doch dieses Eis war für den Jungen viel zu dünn, und er wird sich mit Goethe über die Causa beraten haben. Elisabeth musste sich wohl oder übel damit begnügen, mit Fritz Gedanken über ihr beiderseitiges Verhältnis zueinander auszutauschen. Das Weihnachtsfest 1784 bot Gelegenheit, ein wenig über die kurzen Tage in der Winterzeit zu meditieren. Und Elisabeth erfreute den Jungen am 23. Dezember mit weihnachtlichen Geschenken.
In all den Monaten kam immer wieder der Gedanke auf, Fritz möge doch nach Frankfurt kommen – mit oder ohne Goethe. Im Frühjahr 1785 wuchs dieser Wunsch bei Elisabeth so sehr, dass sie Fritz am 16. Mai 1785 einen geradezu drängenden Brief mit der blumigen Schilderung des Frankfurter süßen Lebens schickte.
Tatsächlich ergab sich im Juli 1785 die Gelegenheit, dass Fritz nach Frankfurt fahren durfte. Charlotte von Stein befand sich im Juli mit Goethe in Carlsbad. Durch einen Brief Goethes an Fritz vom 3. Juli erklärte sie ihr Einverständnis mit der Reise, deren Realisierung dann im August und September 1785 erfolgte. Goethe selbst betonte in jenen Tagen mehrfach, dass er Fritz ausdrücklich nach Frankfurt geschickt hatte, damit der Junge die Ballon-Aufstiege des Franzosen Jean-Pierre Blanchard miterleben konnte.
Goethes Mutter verwöhnte den Jungen mit allen ihr zur Verfügung stehenden kulinarischen Möglichkeiten. Sie putzte ihn heraus und ließ sich von ihm wie von einem Kavalier zu allen Gesellschaften und in das Theater begleiten. Ihre mehrwöchige Gemeinsamkeit war so intensiv, dass Elisabeth die schönen Tage in ihrem Brief an Fritz von 20. Oktober 1785 noch einmal Revue passieren ließ: „Mein lieber Cherubim! Ihre glücklich abgelaufene Reise und die ausführliche Beschreibung davon hat mich sehr gefreut, – auch ergötzte mich herzinniglich, daß mich mein lieber Fritz in gutem Andenken hat […].“
Auch in späteren Briefen lebte die Erinnerung fort. Aber, aber, aber! Noch im Jahre 1785 traten längere Pausen in der beiderseitigen Korrespondenz ein, als habe der Besuch des Jungen in Frankfurt den Zenit ihrer Gemeinsamkeit markiert. Vor allem, weil der kleine Fritz entgegen den Hoffnungen der Mutter nur wenig Signifikantes über Johann Wolfgang mittgeteilt hat. Die Räthin war sichtlich verärgert und griff zu einem Trick. Am 25. Mai 1786 schrieb sie an Fritz: „Ei! Ei! mein lieber Sohn! Sie scheinen ja gar böse auf Ihre Gevatterin zu seyn! Hören Sie aber erst meine Entschuldigung und ich wette, alle Fehde hat ein Ende. Wahr ists, ich habe zwei Briefe von Ihnen nicht beantwortet, aber, lieber Freund, es war Messe! Freunde und Bekannte nahmen mir meine Zeit weg. Herr Kriegsrath Merck war tagtäglich bei mir, – der berühmte Dichter Bürger, Reichardt aus Berlin, und andere weniger bedeutende Erdensöhne waren bei mir, – an Schreiben war da gar nicht zu denken […].“
Mit anderen Worten: Wenn sie schon keinen Zugang zu Goethes Welt in Weimar hatte, auch gut, dann kehrten die Großen Geister eben bei ihr in Frankfurt ein! Damit das nicht zu hart als Vorwurf aufgefasst werden konnte, bat sie quasi unter Tränen um Nachsicht: „[…] und das, was ich jetzt thue, thu ich gegen das Gebot meines Arztes, der beim Trinken der Molken |:welches jetzt mein Fall ist:| alles Schreiben verboten hat, – doch um meinen lieben Sohn wieder gut zu machen, will ich der ganzen medizinischen Fakultät zum Trotz doch schreiben.“
Das war der letzte Brief, den Goethes Mutter vor der heimlichen Abreise ihres leiblichen Sohnes nach Italien an Fritz von Stein schickte. Es ist schon merkwürdig, dass sie den allein in Weimar zurückgebliebenen „lieben Sohn“ danach über Monate hinweg mit keiner Zeile tröstete oder aufmunterte und dadurch den Eindruck erweckte, als sei es ihr in der so liebevollen Korrespondenz mit Fritz doch letztlich nur um Informationen über den „Hätschelhans“ gegangen. Erst am 17. Dezember 1786 schrieb sie wieder an Fritz. Sie erinnerte an die vergangene Zeit und ihre gemeinsamen Freuden und machte doch nur ihrem Ärger Luft, dass sie so lange nichts von Goethe gehört hatte und nicht einmal wusste, wo er sich überhaupt befände.
Eine neue Etappe begann auch im Verhältnis zwischen Goethes Mutter und ihrem jungen Favoriten. Aber den Takt gab immer nur einer an, der allseits umworbene „Hätschelhans“.
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