28. Jahrgang | Nummer 9 | 5. Mai 2025

Der Mann, der davonlief

von Jutta Grieser

Klinkmann ist nicht da, Klinkmann ist weg. Der Herr Professor möchte seinen 90. Geburtstag auf hoher See verbringen. Den Elogen auf Land entgehen. Den Ansprachen, Glückwünschen, den Umarmungen und dem Händeschütteln, den Lobhudeleien (von wahren wie auch von falschen Freunden). Er hat selbst seinen Verbündeten sitzen lassen, mit dessen Hilfe er Anfang 2024 von der Rostocker Universität die Herausgabe der 2.674 Seiten erzwang, die eine „Ehrenkommission“ über ihn verfasst hatte. 32 Jahre nach der moralischen Hinrichtung von Prof. Dr. sc. med Dr. h.c. mult. Horst Klinkmann, des Weltbürgers und weltbekannten Nephrologen. Das elfköpfige Gremium, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit getagt hatte, konzedierte diesem „mangelnde persönliche Eignung“ und empfahl seine Entlassung. Dieser Befund wurde ihm an seinem 57. Geburtstag mitgeteilt. Vermutlich war das weder Zufall noch Nachlässigkeit. Es ging den Provinzheinis um maximale Demütigung eines ganz Großen.

Zu dieser Herabwürdigung wird gewiss auch die „arbeitsrechtliche Vereinbarung“ gehört haben, dass der Befund vertraulich behandelt werden sollte. Jahrzehntelang hatte sich Klinkmann nicht für den denunziatorischen Unsinn interessiert, er war, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, international und national viel unterwegs gewesen. Keine Zeit. Allein 1994 legte er so viele Kilometer in der Luft zurück, als hätte er zehn Mal die Erde umrundet: Tokio – San Francisco – Sao Paolo – Indonesien – Singapur – Shanghai etc. Die Lufthansa erklärte ihn zum Ehrensenator.

Erst als sich Klinkmann daran machte, seine Erinnerungen für seine Erinnerungen aufzufrischen und er nicht mehr so viel als Forscher, Dozent und in wirtschaftlicher und politischer Mission unterwegs war, bemerkte er den hinhaltenden Widerstand des Uni-Rektorats. Mal wurde behauptet, dass sich Anfragen erübrigten, weil er doch sämtliche Unterlagen kenne, denn er sei schließlich deren Urheber. Ein andermal, dass die Akten der Ehrenkommission angeblich noch nicht sortiert seien. Schließlich wurde ihm mitgeteilt, dass erst zehn Jahre nach seinem Tod die Unterlagen eingesehen werden dürften. Erst als Klinkmann mit der juristischen Einforderung des 2005 erlassenen Informationsfreiheitsgesetzes drohte, also die Auskunftspflicht der Universität mit Hilfe des auch für ihn geltenden Rechts verlangte, bequemte sich sein früherer Arbeitgeber endlich, das Archiv zu öffnen.

Klinkmanns Fall ist so einzigartig wie exemplarisch für die Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft. Sie kann man auch pathetisch Vernichtung deutschen Kulturgutes nennen. Exemplarisch insofern, weil der Arzt und Medizinwissenschaftler aus Rostock für die ganze DDR-Zunft stand. Er erhielt zwei Mal den Nationalpreis und war im Frühjahr 1990 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der DDR gewählt worden. An seinem Schicksal offenbarte sich die systematische Ausschaltung der ostdeutschen Eliten durch westdeutsches Mittelmaß. Das handelte aus ideologischer Vernarrtheit und niederträchtigem Konkurrenzneid. Überflüssig zu erwähnen, wer in dieser „Ehrenkommission“ saß. Allein in Rostock entschied sie über das berufliche Sein von 6.248 Personen.

Klinkmann hatte sich in den Augen der Inquisitoren in verschiedener Hinsicht disqualifiziert. So hatte er als junger Assistenzarzt Anfang der sechziger Jahre einigen Sowjetsoldaten das Leben gerettet. Diese hatten sich mit Methanol vergiftet. Dafür bekam er eine sowjetische Medaille – er habe sich mit der Besatzungsmacht gemein gemacht, hielt man ihm nun vor. Noch schwerer jedoch wog, dass er als Reisekader immer wieder in die DDR zurückgekommen und nicht im Westen geblieben sei. Selbst als er 1969/70 eine Gastprofessur in Utah/USA hatte, kam er wieder. Und er habe sogar auf dem SED-Parteitag 1976 gesprochen … Hat er. Er forderte dort Unterstützung ein für die Forschung und Entwicklung künstlicher Organe. Und bekam sie auch. Die DDR leistete sich eine eigene Produktionsstätte für die Künstliche Niere. Sie wurde zur Grundlage für die Dialysetherapie in den RGW-Staaten. Und rettete zehntausenden Patienten das Leben.

Natürlich zog die „Ehrenkommssion“ auch die Stasi-Karte. Obgleich sich in den Hinterlassenschaften des MfS kein Beleg für eine schriftlich oder mündlich verabredete Zusammenarbeit fand, die man ihm hätte vorhalten können. Es sei „nicht nachgewiesen“, dass Professor K. der IM „Ludwig“ war – tut nichts, man könne es aber auch nicht ausschließen. In dieser Akte lagen beispielsweise auch Quittungen aus dem Dezember 1986 für diesen „Ludwig“: Präsente im Wert von insgesamt 242,50 Mark – ein Blumenstrauß, eine Schachtel Club und eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn, der Judaslohn für den „inoffiziellen Mitarbeiter“. Kurios nur: Klinkmann hatte noch nie in seinem Leben geraucht und durchgesetzt, dass die Klinik für Innere Medizin in Rostock zur ersten „Nichtraucherklinik der DDR“ erklärt worden war.

Das sich über Monate hinziehende Ehrenverfahren fand seinen Niederschlag auch in der Regionalpresse. Und die Redaktionen – durch die der Zeitgeist wehte wie auch der Wille der neuen Eigentümer aus dem Westen – druckten vorzugsweise Briefe von Lesern, die dem schonungslosen Wirken der Ehrenkommission verbalen Beifall spendeten. Am 7. Juni 1992 hatte etwa ein Lothar Th. geschrieben: „Eindeutig und für viele Rostocker nachvollziehbar war Prof. Klinkmann die rote Socke der Medizin in Rostock und darüber hinaus. Seine Karriere wurde durch die SED systematisch aufgebaut und im In- und Ausland gefördert, um für das Regime agieren und dessen Ansehen auch fachlich repräsentieren zu können.“

Die Gesellschaft für künstliche Organe – International Society for Artificial Organs – erteilte Nachhilfe-Unterricht. Klinkmann sei „der Einzige aus unserem Fachgebiet, der zum Präsidenten der drei angesehensten internationalen Gesellschaften gewählt wurde“, erklärten die weltweit bekanntesten fünf Experten für künstliche Organe, darunter Willem Kolff aus Salt Lake City und Peter Ivanovich aus Chicago. Prof. Klinkmann sei „Gastprofessor an Universitäten in 38 Ländern, er wurde geehrt mit vier Honorardoktor-Titeln, erhielt zwei Ehrenprofessuren und die Ehrenmitgliedschaft in vierzehn nationalen medizinischen Gesellschaften“. Ausdrücklich würdigten sie, dass Klinkmann es jungen Wissenschaftlern aus der DDR und anderen osteuropäischen Ländern ermöglicht habe, am internationalen Austausch teilzunehmen. Er habe auch niemals ein Geheimnis daraus gemacht, dass er seine Position in Gesellschaft und Politik der DDR nutzte, um die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit voranzubringen – zum Wohle der Patienten.

Eine Solidaritätsbekundung kam auch von einem Ostseeurlauber namens Quermann, die die Lokalpresse wohl wegen der Prominenz des Absenders und weniger wegen des Inhalts veröffentlichte. „Aus der Empfehlung der Uni-Ehrenkommission, Prof. Horst Klinkmann zu entlassen, spricht der blanke Neid, gepaart mit penetranter Dummheit“, schrieb Heinz-der-Quermann. Deren Mitglieder „würden als Gastprofessoren wahrscheinlich nicht mal nach Ziesendorf berufen werden“. Ziesendorf, das für Ortsunkundige, ist ein Dorf im Landkreis Rostock mit weniger als anderthalbtausend Einwohnern.

Die heimatliche Rostocker Universitätsklinik „jagte mich vom Hof. Ich war unerwünschte Person. Weit entfernte Wissenschaftsstandorte in Europa, den USA und Asien hingegen rollten mir rote Teppiche aus“, schrieb später Klinkmann. Und diese Teppiche liegen noch immer für ihn dort. Er ist Mitglied der Belgischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (seit 1986), der New York Academy of Science (seit 1985), des Royal College of Physicians of Edinburgh (seit 1988), der International Academy of Medical Science Geneve and New Delhi (seit 1990), seit 2008 ist Klinkmann auch Vizepräsident der ScanBalt Akademie Kopenhagen/Oslo. Und noch immer gehört er siebzehn nationalen und internationalen Medizinischen Gesellschaften und diversen Wissenschaftsorganisationen an. Unter Kanzler Schröder war Klinkmann Mitglied des Gesprächskreises Ost der Bundesregierung, er war Vorsitzender des FC Hansa Rostock, ist Aufsichtsratsvorsitzender der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern und Wissenschaftlicher Berater der Landesregierung in Schwerin sowie Ehrendoktor an dreizehn und Ehrenprofessor an drei internationalen Universitäten …

Irgendwie verständlich, wenn er sich vor einer öffentlichen Feier drückt. Aber ob er nun da ist oder weg – an seinen 90. Geburtstag wird man trotzdem an ihn erinnern. Und irgendwann werden hoffentlich auch seine Erinnerungen erscheinen, die er nun schon seit Jahren vor sich herschiebt.

Professor Horst Klinkmann, der letzte Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR, begeht am 7. Mai 2025 seinen 90. Geburtstag.