Einige Schlapphüte berichten über eine drohende Kriegsgefahr, die von Russland ausgeht. „Viele unserer nationalen Geheimdienste geben uns die Information, dass Russland in drei bis fünf Jahren die Verteidigungsbereitschaft der EU testen könnte“, sagte Kaja Kallas bei einer Veranstaltung der Europäischen Verteidigungsagentur in Brüssel.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sprach in einer Sendung des n-tv am 10. April sogar über einen unmittelbar bevorstehenden möglichen Angriff Russlands auf NATO-Territorium, der in diesem Sommer aus einem Militärmanöver in Belarus heraus beginnen könnte. Und Jens Spahn, der designierte Fraktionsvorsitzende der CDU, fragt in der FAZ vom 11. März besorgt: „Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht? Wir Europäer haben doch zugespitzt gesagt nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns verteidigen lernen oder alle Russisch lernen.“ Polen erwägt nach den Worten des Ministerpräsidenten Tusk den Austritt aus der Ottawa-Konvention, die Produktion und Nutzung von Antipersonenminen verbietet.
Und unsere Medien spielen die Begleitmusik zu diesen Bedrohungsmeldungen von Politikern und einigen Experten. Hier nur ein paar Überschriften aus Berichten im letzten Monat: „Schützengräben und Bunker: Stadt an Nato-Grenze rüstet sich gegen Putin-Invasion“ (Frankfurter Rundschau), „Russland könnte nahe Finnlands Grenze Angriff vorbereiten“ (n-tv) und „Drohung aus dem Kreml: Diese Nato-Staaten hat Putin im Visier“ (Frankfurter Rundschau).
Russland spricht zwar davon, dass es sich nur auf eine möglicherweise drohende Invasion der NATO auf sein Territorium vorbereitet, aber kann man Putin trauen? Jedoch, auch Putin traut den Versicherungen von EU-Politikern nicht, dass das westliche Militärbündnis sich nichts mehr als verteidigen will. Vertrauen ist eine rare Materie in diesen Zeiten. Aber ohne ein gewisses Vertrauen wird es keine Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Kriegen, über Abrüstung und Rüstungsbegrenzung geben.
Verstärkt möglicherweise die Kriegshysterie, die in den letzten Monaten öffentlich erzeugt wird, selbst die Kriegsgefahr? Ein Aufruf von Wissenschaftlern von Ende März dieses Jahres vermutet das. Er wurde initiiert von dem Politikwissenschaftler Johannes Varwick. Dort heißt es: „der derzeit verbreitete Alarmismus in Teilen der Politik und der Medien ist nicht plausibel und basiert auf keiner seriösen Bedrohungsanalyse. Einige sicherheitspolitischen Experten reden sich geradezu in einen Rausch, sekundiert von nicht nachvollziehbaren Geheimdiensteinschätzungen über die aggressiven Pläne Moskaus gegen den Westen“. Ich teile diese Einschätzung und habe ebenfalls unterschrieben.
Die auf allen Seiten rasant vor sich gehende Aufrüstung für sich genommen ist nicht das Problem. Abschreckung hat zum Zweck der Verminderung von Kriegsgefahr einen rationalen Kern. Aber Abschreckung allein – ohne Bemühungen um vertrauensbildende Maßnahmen und ohne Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung sowie den Abbau bestimmter militärischer Potentiale – ist nicht geeignet, militärische Konflikte zu verhindern. Ein Rüstungswettbewerb, ohne das Bestreben die andere Seite in ihren Interessen und Bedrohungswahrnehmungen zu verstehen, ohne ausreichende Informationen über die Absichten des anderen Systems, bei zunehmendem Misstrauen ihm gegenüber, verschärft die Gefahr eines Krieges. Dass es auch anders geht, haben die Entspannungspolitik von West und Ost nach der Kuba-Krise und der Helsinki-Prozess in den Siebziger- und Achtzigerjahren belegt.
Nicht alle Medien schlagen die Kriegstrommel. Manchmal lohnt es, genauer zu lesen. Unter der kernigen Überschrift „Karelien bedroht: Starker Aufmarsch Russlands an Finnlands Grenze“ berichtet Karsten-Dirk Hinzmann nicht nur darüber, dass Russland in Petrosawodsk, ca. 200 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt, ein neues militärisches Hauptquartier aufbaut, neue Kasernen eröffnet, seine militärische Infrastruktur modernisiert. Er schreibt auch auf Grundlage eines im August 2024 in einem finnischen Magazin veröffentlichten Berichts darüber, dass in der finnischen Stadt Mikkeli „ein Unterstab der Nato-Landstreitkräfte eingerichtet“ wird, der die „Ausbildung und die Operationen einer Nato-Brigade von bis zu 5.000 Soldaten aus Finnen und Norwegern zum Schutz der finnischen Grenze“ leiten soll. Mikkeli ist ca. 200 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, etwa ebenso weit wie Petrosawodsk von der finnischen Grenze. Wer reagiert hier eigentlich auf wen?
Natürlich spielt auch Geschichte eine Rolle. Wie man aus dem zitierten Beitrag lernen kann: Mikkeli war das Hauptquartier der finnischen Armee unter Marschall Gustaf Mannerheim „während des finnischen-russischen Krieges, auch genannt ‚Winterkrieg‘, von 1939 bis 1940, sowie dessen Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944“. Der Winterkrieg begann als ein Angriffskrieg der Sowjetunion unter Stalin. Die Fortsetzung dann sah die finnische Armee an der Seite des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, auch als Teilnehmer der Belagerung Leningrads und Aushungerung seiner Bevölkerung. In der Geschichte gibt es selten eine reinliche Trennung von Tätern und Opfern.
Kriegsgeschrei, ein Schlachtruf auf dem Wappen der angreifenden Truppe, dient der Kriegstüchtigkeit, dem Angriffswillen der eigenen Armee. Kriege haben ihre eigene Logik, die, ist sie einmal in Gang gesetzt, nur noch in Sieg oder Niederlage des Herrschers münden kann. Die feudalen Kriege, in denen Wappen und Schilde eine Rolle spielten, gehören allerdings einer anderen Zeit an. Heutige Kriege kennen keine Sieger mehr, nur noch erste und zweite Verlierer. Ihre zerstörerische Kraft sollte uns dazu zwingen, sie nicht erst vorzubereiten. Dagegen ist dringend geboten, Frieden vorzubereiten, einen stabilen, nachhaltigen.
Frieden zu schaffen, verlangt von uns, zuerst das Kriegsgeschrei einzustellen. Nicht nur die Losungen auf den Wappen, die behaupten, dass allein der von uns geführte Krieg gerecht ist, sondern auch die hetzerischen Reden, die der anderen Seite nur schlechte Absichten unterstellen. Sie sind das Böse schlechthin – wir sind die Guten! Wie wir von Anne Morelli lernen können, ist das ein Grundprinzip von Kriegspropaganda (und auch von der Kriege vorbereitenden Propaganda): „Wir wollen keinen Krieg. Der Gegner allein ist für ihn verantwortlich!“
Es gibt auch eine Friedenslogik. Die brauchen wir, um den Frieden sicherer zu machen: Die Interessen und Bedrohungswahrnehmungen der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen. Die Friedensbereitschaft der anderen Seite nicht ableugnen, sondern sie in Verhandlungen auszutesten. In der Medienberichterstattung Feindbilder zu vermeiden, nicht immer die lauteste Kriegstrommel zu schlagen. Keine Helden erziehen, sondern mündige Bürger.
Um ein Brechtzitat aus dem „Galilei“ etwas abzuwandeln: Unglücklich das Land, das meint, Helden nötig zu haben.
Schlagwörter: Dieter Segert, Friedenslogik, Kriegsgeschrei, Kriegslogik