Kaum ist die Überschrift geschrieben, setzen die Erinnerungen an die gute alte Buchmesse der Siebziger- und Achtzigerjahre ein. Ein Muss für uns junge Studenten, die die „Asche“, also den Wehrdienst bei der NVA, hinter sich hatten und endlich losstudieren durften. Unsere Mitstudentinnen und unsere Freundinnen lasen kaum, sie kamen jedenfalls nie mit. Wir hingegen schwelgten in den Neuerscheinungen der DDR-Verlage und lasen stehend halbe Bücher von Christa Wolf, Hermann Kant, Eva Strittmatter, Franz Fühmann oder Sarah Kirsch. Auch die eine oder andere Lizenzausgabe wurde uns großzügig für ein paar Stunden überlassen und so las ich André Heller, Werner Herzog und Friedrich Dürrenmatt im beschleunigten Leseverfahren, also wie das ND quer und von hinten. Auch die westdeutschen Musikverlage waren da und dort konnte man ab und zu eine Neuerscheinung abstauben: die berühmte rote Reihe des Schott-Verlages über modernes Musikdenken oder Partituren von Strawinsky oder Henze. Wir lasen alles, denn wir wollten alles wissen. Ich war darüber hinaus etwas privilegiert, denn ich kannte etliche Verlagschefs der DDR, da sie bei uns jungen Musikern immer die Abendunterhaltung für Verlagsgäste bestellten: Der berühmte Schauspieler X aus Berlin liest Goethe oder Frivoles und ich spielte Gitarre dazu, bevorzugt im Weinabteil von Auerbachs Keller, in dem es leider, leider keinen Platz für ein Klavier gab. Oder es sangen Zsusa Koncz oder Jiři Korn oder Lutz Jahoda und meine Band spielte dazu bis 2 Uhr in der Nachtbar am Leipziger Ring. Es waren leichte und schöne Zeiten. Der Partei- und Politikquatsch war ganz weit weg. Dann kam die Wende.
Es schien undenkbar, dass die Leipziger Buchmesse davon Schaden nehmen könnte. 1825 hatte sich hier der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig gebildet, bis 1945 blieb dieser Spitzenplatz der Leipziger Buchmesse unbestritten. Doch nein, auch die Leipziger und ihre Messe mussten sich wie alles aus dem Osten ganz weit hinten anstellen. Die Messeleute in Frankfurt am Main dachten gar nicht daran, zurück nach Leipzig zu kommen. Die Verlage, die Druckereien, die Buchbindereien, der Vertrieb kamen alle erst ins Schleudern, sodann unter den Hammer und wurden schließlich dicht gemacht oder von der Treuhand verscherbelt. Trübe Jahre für das Leseland DDR.
Erst in den Neunzigerjahren ging ich wieder zu einer Buchmesse, um die neue Messehalle zu besichtigen. Die Straßenbahn Linie 16 vom Hauptbahnhof nach Leipzig-Wiederitzsch war fast leer. Die meisten Mitreisenden waren Lektorinnen oder Assistentinnen von kunst- und geistesgeschichtlichen Spezialdisziplinen kurz vor oder nach der Kündigung oder ganz allgemein prekär beschäftigte Akademikerinnen, die darüber berieten, auf welchem Wege und bei welchem Kollegen man Sohn oder Tochter als Lektor oder in einem vergleichbaren Job unterbringen könnte.
Dann sah ich eine Tafel, auf der „Verlag sucht Autoren“ zu lesen stand. Ich näherte mich in konzentrischen Kreisen. Die aktuellen Neuerscheinungen, beispielsweise „Als BDM-Mädel unter Adolf Hitler“ oder „Meine Jugend in Ostpreußen“ füllten mehrere Regale. Wer braucht diese Unmengen an Büchern? Eigentlich doch nur die Autoren. Für das eigene Ego, die Karriere, die Beglückung der Verwandtschaft zu Familienfesten. Diese Art Verlage sind mittlerweile großflächig verbreitet. Bei einem davon nehme ich einen Katalog mit. 70 Mark pro Seite steht hinten im Prospekt.
Die Deutschen, die sich sonst um nichts kümmern und ihrer kulturellen Tradition zunehmend fremd gegenüberstehen, also diese angeblichen Kulturmuffel schreiben und schreiben. „Alles schreibt, keiner liest“ ist die Standardklage der meisten Verleger. „Machen Sie doch weniger und interessantere Bücher“, sagte ich zu einem Großhandels-Vertriebsboss, der vor einer Wand voller neuer Ratgeber stand, und mir stolz die Neuerscheinung „Problemzonen am Po mit 40“ zeigte. „Wo denken Sie hin“, entgegnete er, „es gibt ein Dutzend Buchmessen in Deutschland, alle acht Wochen eine. Überregional wahrgenommen werden Frankfurt und Leipzig. Aber Frankfurt hat dreimal so viel Platz und wir machen dort deutlich mehr Gewinn. Trotzdem muss auf jeder Messe ganz viel Neues stehen. Denn was in drei Monaten nicht verkauft ist, wird vergessen und sofort überlagert von Neuerscheinungen. Dieses Jahr gewinnt der Kracht oder irgendeine Autorin mit einem Frauenthema-Buch. Das muss dann sofort durch die Ladenketten wirbeln. Denn was in drei Monaten nicht verkauft ist, wird nie mehr verkauft und landet im modernen Antiquariat oder wird über Zweitverwerter verramscht.“ Es gewann in diesem Jahr Kristine Bilkau mit dem Roman „Halbinsel“.
Der SWR-Literaturkritiker Carsten Otte bescheinigte der Messe in seinem Bericht, unkritisch zu sein und „kontroverse Diskussionen über die Entwicklung der Branche zu scheuen, dabei wären Streitgespräche dringend nötig. Wer sich die Ergebnisse zur Bundestagswahl vor allem in Ostdeutschland anschaut, hatte beim Zuhören der so gut wie nie kontroversen Podiumsdiskussionen der Messe zuweilen das beklemmende Gefühl, in ein politisch korrektes und gleichermaßen dystopisches Computerspiel geraten zu sein, das gewinnt, wer die meisten Harmoniepunkte sammelt.“ – „Worte bewegen Welten“, zitierte hingegen Barbara Klepsch, die Staatsministerin für Kultur in Sachsen, das Motto der Buchmesse, und die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels verstand die Anwesenden als „Menschen des Wortes“.
Mittlerweile ist Leipzig wieder die unangefochtene Nummer 2 unter den Messen in der Verlagsbranche. Denn die pfiffigen Westsachsen kreierten vor einigen Jahren das Format „Leipzig liest“ und landeten damit einen Volltreffer. Die Messe wird seitdem umrahmt von immer mehr Autorenlesungen und vergleichbaren Veranstaltungen. Und seit die Frankfurter Musikmesse die Musikverlage durch schier unbezahlbare Standmieten vergrault hat, treffen sich auch die Musikverleger in Leipzig. Die Messe gilt als gemütlich und kundennah, ist aber wie alle Messen laut und unübersichtlich. Die meisten Besucher sind junge Leute in Phantasiekostümen. Manche tragen japanische Schuluniformen oder haben sich in die Rüstung eines Roboters gewuchtet. Carsten Otte schreibt zu diesem Phänomen im SWR-Magazin: „Der krasse Kitsch, der mal unter Vampiren, mal im Drachenmilieu, gerne an sagenumwobenen Schulen und Universitäten spielt, läuft grundsätzlich auf das bekannte Enemies-to-Lovers-Konzept hinaus: Die schöne, gute und junge Frau muss den attraktiven Bösewicht zähmen und wird dann mit leidenschaftlichem Sex belohnt. Romance oder Dark Romance, Romantasy oder New Adult heißen die Genres in einem inzwischen ausdifferenzierten Segment der Trivialliteratur. Aber wer will derlei Misstöne schon hören, wenn nach einem rosaroten Messefrühling in Leipzig die erstaunlichsten Besucherrekorde vermeldet werden?“ Ach so, ja klar, denn ich hatte mich schon über die Waffenkammer gewundert. Dort müssen die ganzen Gummischwerter und Lanzen abgegeben werden und das ist kein Witz.
Darüber hinaus sind Frauen eindeutig in der Mehrheit. Zu den Akademikerinnen und Lektorinnen der Neunzigerjahre kommen Kundinnen und Autorinnen. Offenbar ist der Literaturbetrieb weitgehend von den schreibenden Frauen übernommen worden. Auch die Autorinnen der Vergangenheit werden immer wieder neu aufgelegt; die guten und zu Unrecht vergessenen und alle anderen auch. „Tja, die Messe wird weiblicher und jünger und die Themen der Bücher, die die Verlage drucken, passen sich dem an“, sagte der Vertriebsleiter eines namhaften Verlags. „Und was soll ich lesen oder mein Enkel, der Angst hat, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird oder er gar in einen Krieg ziehen muss?“, will ich wissen. Er weist mit großer Geste in die Hallen und fragt: „Sehen Sie junge lesenden Männer?“ Nein, ich sehe tatsächlich keine. „Die sind uns abhandengekommen ins Internet, in die sozialen Medien, zu Tiktok und den Computerspielen. Für die brauchen wir nichts mehr zu drucken. Die kaufen keine Bücher mehr“, konstatiert er und lässt mich stehen.
Zu Hause erwartet mich eine Überraschung in Form einer Tüte. Ein Freund hatte mir beim Wohnungsumzug seine Spektrum-Reihe vermacht, einfach so, weil ich so davon geschwärmt hatte. Die Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt im Oktav-Format, schwarzer Umschlag mit weißer Schrift, war seinerzeit oft nur unterm Ladentisch zu bekommen. Ich lese seitdem ununterbrochen Jannis Ritsos, Jewgeni Jewtuschenko, Heiner Müller, Michael Bulgakow, Peter Handke – und die Begeisterung für Literatur entfaltete ihren alten Zauber sofort. „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng getrennt“ schrieb Friedrich Schiller 1785. Er muss den Literaturbetreib auch schon gekannt und durchschaut haben.
Parallel dazu lese ich in den Nachrichten, dass ein erheblicher Teil der Berliner Bühnen aus staatlicher Obhut entlassen (!) und privatisiert werden soll, dass die GEMA die E-Musik-Wertung und die Alterssicherung der Komponisten abschaffen will und die Berliner Hochschulen wegen Mittelkürzung Professuren streichen und wenige Studenten aufnehmen können. Was für Zeiten!
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