28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Hamburger Coup mit anhaltender Wirkung

von Joachim Lange

Ungeheuer ist vieles, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.

Sophokles

 

Gerade hat die Liz Mohn Stiftung ihren zweiten „Relevanzmonitor Kultur“ vorgestellt. Dessen Kernaussage lautet erneut: Die Befragten finden Kultur wichtig, besuchen aber nur selten jene Kulturinstitutionen, die immer mehr unter Legitimationsdruck geraten, wenn ihre Träger die Mittel bereitstellen sollen. Dass ausgerechnet der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (den viele Beobachter deutlich lieber als seinen Berliner Amtskollegen als Nachfolger von Claudia Roth sehen würden) selbst in dieser Diskrepanz produktives Potenzial sieht, vermag er nicht nur mit der ihm eigenen Eloquenz triftig zu begründen. Das mag auch an der Kultur in seinem Zuständigkeitsbereich Hamburg liegen.

Dort gab es nämlich Anfang April im Deutschen Schauspielhaus was man neudeutsch die anekdotische Evidenz des Gegenteils der im Relevanzmonitor festgestellten Diskrepanz nennen könnte. Da waren im größten Schauspielhaus Deutschlands drei Abendvorstellungen hintereinander, ergänzt von zwei Nachmittagsvorstellungen, komplett ausverkauft. Ihre Premieren hatten die von der seit 2013 ziemlich erfolgreich amtierenden Intendantin Karin Beier selbst inszenierten Stücke lange hinter sich. Die zwischen September und November 2023 dafür aufgestellten Feuilletonscheinwerfer sind längst abgeräumt. Es gab auch keine Spur von Event-Remmidemmi, bei dem Schauspiel so tut, als wäre es ein Musical.

Die fünf Stücke, die hier gefeiert wurden, hießen „Prolog/Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“. Diese Titel verweisen auf Personal und einen Schauspielzyklus aus dem Kernbestand des kulturellen Welterbes. An die Seite der Autoren Euripides (480–406 v. u. Z.), Sophokles (497/96–406/05 v. u. Z.) und Aischylos (525–456 v. u. Z.) hat sich dabei mit überschwänglichem Selbstbewusstsein unser Zeitgenosse Roland Schimmelpfennig (geboren 1967) gestellt. Was auf den ersten Blick nach einem Fall von Hybris aussehen mag, war aber der Glücksfall dieses „Ring-Projektes“ (ohne Musik von Richard Wagner).

Über den Stücken wölbte sich die Überschrift „Anthropolis“. Was zunächst nach einer der heute modischen Raumbühnen klingt, ermöglicht – wie diese – tatsächlich eine neue Perspektive auf die Schauspiel-Erbstücke. Damit hatten die antiken Autoren-Säulenheiligen im alten Griechenland dem Beginn unserer abendländischen Kultur Worte gegeben und sie in Konflikte gegossen, die uns heute noch etwas angehen. Immerhin gibt es diese Zivilisation noch. Zumindest, wenn man sich Mühe gibt, sie zu erkennen.

Johannes Schütz (Bühne) und Wiebke Naujoks (Kostüme) und in unterschiedlicher Dosierung auch Jörg Gollasch (Musik) schaffen Beier und ihren Mimen vor allem Raum für Entfaltung. Zunächst die einer Geschichte, die sich locker um das mythische Theben gruppieren lässt; die dabei Begegnungen und nähere Bekanntschaft mit den Göttern und tragischen menschlichen Helden bringt; die all das mit erstaunlich leichter Hand und Witz nicht nur von heute aus hinterfragt, sondern sie manchmal auch wie von heute aus erzählt; vor allem aber für eine beglückende Ballung von erstklassigen Schauspielern, durch die all das zu einem Ereignis wird.

Mit dem Auftakt Prolog/Dionysos landet jener Stier als Kunstkadaver auf der Bühne, in dessen Gestalt einst Zeus Europa entführte. Er bleibt uns als Leitmotiv erhalten. So wie der immer wieder auftauchende blinde Seher Theresias (zerbrechlich mit der Wahrheit insistierend prägt sich Michael Wittenborn ein), so ringt Ernst Stötzer seinem menschlichen Selbstzweifel als Kadmos und dann als Kreon Königliches ab.

Die Aura der Sinnlichkeit, die Dionysos (Carlo Ljubek) umgibt, zelebriert Lina Beckmann in einem erzkomödiantischen Vorspiel als Weinkennerin (und -konsumentin) im Publikumsdialog und dann als jene völlig irre Agaue, die im dionysischen Rausch den eigenen Sohn Pentheus (Kristof van Boven) zerfleischt, weil sie ihn für einen jungen Löwen hält.

So präsent das manch einem sein mag, so verführerisch alt-neu ist das Laios-Porträt, das Schimmelpfennig voll auf seine Autorenkappe nimmt. Und Lina Beckmann als Solo – ja was eigentlich: spielt? performt? spricht? auf die Bühne zaubert? Anderthalbstunden allein, keine Minute zu lang und der Saal an ihren Lippen, in Bewunderung für eine Sprach-, Mimik-, Gesten-, und Gestaltwandlerin, wie man sie live nirgendwo sonst erleben kann.

Danach wissen (und fühlen) wir jedenfalls mehr über den Vater jenes Ödipus. Der wird den Vater unwissentlich erschlagen und dessen Thron und Ehebett übernehmen. Womit wir wieder auf allenthalben abrufbaren Überlieferungswegen wandeln. Neben Stötzner und Wittenborn ist es hier Karin Neuhäuser, die stimmgewaltig ganze Szenen imaginiert und mit furchterregendem Krächzen wie aus einer anderen Welt zu uns herüber hallt. Der höchst präsente Devid Striesow als Ödipus beweist hier, dass er auch auf der Bühne in den Bann zu ziehen vermag. Nach den faszinierenden Taiko-Trommlern im „Dionysos“ kommt hier das sozusagen klassische Großkollektiv als Chor ins Spiel.

Wie Laios bekommt auch Iokaste in Hamburg ihr eigenes Stück, in dem Julia Weininger exzessiv zur Hochform aufläuft. Kein Wunder, ist sie doch die Frau, der der Mann erschlagen und die dann unwissentlich von ihrem Sohn geschwängert wurde. Mit dem tödlichen Konflikt zwischen den Söhnen von Ödipus und Iokaste, Eteokles und Polyneikes, ist so etwas wie eine zentrale Szene für den ganzen Zyklus verbunden. Wenn sich Eteokles (Maximilian Scheidt) und sein mit fremdem Heer anrückender Bruder Polyneikes (Paus Behren) im Kampf um die Macht unversöhnlich gegenüberstehen, sitzen sie am (Verhandlungs-)Tisch mit ihrer Mutter. „Und jetzt muss einer anfangen zu sprechen, obwohl es nichts zu sagen gibt“, wiederholen sie immer wieder. Folgenlos. Auch Iokastes ständiges „Es muss Frieden geben, es muss Frieden geben können, und gibt es keinen Frieden, dann muss Frieden verhandelt werden“ bewirkt nichts.

Es wird noch schlimmer, als beide Brüder tot sind und sich Lilith Stangenberg als Antigone (in „ihrem“ Stück) über das Verbot hinwegsetzt, auch Polynikes zu bestatten.

Auf die Götter kann sich bei Schimmelpfennig und Beier niemand herausreden. Und die Zuschauer und die Politiker auf keinen Fall darauf, dass Theater nicht relevant ist.

Nächster Aufführungszyklus vom 7. bis 9. Juni 2025 (Samstag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«; Sonntag, 16.00 Uhr »Laios«; Sonntag, 20.00 »Ödipus«; Montag, 16.00 Uhr »Iokaste«; Montag, 20.00 Uhr »Antigone«). Preise pro Marathon-Ticket: 114–309 Euro für alle fünf Vorstellungen, ermäßigt 71–192 Euro.