Zu den Büchern, die den eingewobenen politischen Reiz auch mit der Zeit kaum verlieren, zählen die „Notizbücher“ von Peter Weiss aus den Jahren 1960 bis 1980. Donald Trumps verstörendes Vorgehen im großen Weltkonflikt, den der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine heraufbeschworen hat, ist Anlass, gezielt in die Notizen zu schauen. Unter den Aufzeichnungen nehmen zwei Kriegsereignisse einen größeren Raum ein: historisch-reflektierend der spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 und der US-amerikanische Vietnamkrieg, der die Gegenwart bedrückt. Weiss ist kein Pazifist, ähnlich wie Ernst Bloch hält er das Recht der angegriffenen Seite hoch, sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Weiss ist Friedenskämpfer, doch fällt er der angegriffenen Seite nicht mit dem zweischneidigen Argument in den Rücken, dass Frieden immer Vorrang haben müsse vor dem Freiheits- und Verteidigungskampf. So als wären ausgerechnet diejenigen, die sich gegen den militärischen Angreifer mit militärischen Mitteln verteidigen, das Friedensproblem.
Über den Bürgerkrieg in Spanien wird notiert (die Schreibweise in den Zitaten folgt dem Original): „Ohne Kriegsmaterial aus der Sowjetunion hätte der Widerstand der span. Republikaner das Jahr 36 kaum überdauern können. Aber die unentbehrliche Hilfe reichte nie aus. Solange der Krieg anhielt fehlte es den republ. Truppen ständig an Flugzeugen an Flak Geschützen ja sogar an leichten Schußwaffen. Wären die Waffenlieferungen großzügiger gewesen, so hätten sie zu einem früheren Zeitpunkt eine entscheidende Kräfteverschiebung zugunsten der span. Republik herbeiführen können. Bei aller Würdigung des Sowjetbeistands wird man in ihm unter diesen Umständen schwerlich eine Bekundung unverbrüchlicher Solidarität mit dem spanischen Volk sehen können.“ Weiss vergleicht mit Vietnam: „Ebenso die Verhältnisse gegenüber Viet Nam!“
Bezeichnend ist dieser Eintrag: „Anfänglich hatte die SU die Position unerschütterlicher Neutralität bezogen. Im Oktober 36 wurde ein anderer Kurs eingeschlagen, die SU lieferte viel Kriegsmaterial u leistete auch sonstige militärische Hilfe. Vom Sommer 38 an wurde die militär. Hilfeleistung verlangsamt u fühlbar reduziert. Am Ende dieser Periode überließ die SU das republikanische Regime in Spanien seinem Schicksal.“ Schnörkellos wiederum diese Bemerkung: „Natürlich hatte die Materiallieferung auch rein geschäftliche Aspekte. Ebensowenig wie Deutschland seine Waffen Franco zum Geschenk machte, dachte die SU an Gratisversorgung des republikanischen Lagers. Gleich bei den ersten Verhandlungen war Barzahlung ausgemacht worden: Sowjetrechnungen für das den Republikanern gelieferte Kriegsmaterial waren mit dem Gold der Bank von Spanien zu begleichen. […] Nach der Darstellung der Sowjetregierung ist das gesamte Gold, das in die SU gelangt war, für die Lebensmittel- u Kriegsmaterialversorgung Spaniens verbraucht worden.“
Der Vietnamkrieg, die Haltung des Angreifers: „Wir sind nicht die Angreifer – der Krieg wurde begonnen von Hanoi!“ Weiss sieht die Parallele zu 1939: „Johnson verwendet Hitlers Terminologie.“ Deutlich hebt er die entschlossene Verteidigungshaltung auf vietnamesischer Seite hervor, mit der die haushohe militärische Überlegenheit des Angreifers aufgewogen wird: „Der Heroismus. Die ständigen Angriffe gegen das Land; Hauptmotiv der heutigen Einstellung. Das Heranziehen der Geschichte zur Erklärung der Ausdauer.“ Vietnams Verteidigung bringt die weltpolitischen Koordinaten ins Schwingen, in Unordnung: „Gegenüber der Diplomatie der Kompromisse, der Machtbalance ist die vietnamesische Haltung anachronistisch. Moral, Selbstlosigkeit, persönlicher Mut – Eigenschaften, die in der Politik nicht vorhanden sind. Fast alle andern Befreiungskämpfe der letzten Jahrzehnte wurden aufgerieben. Nicht nur von der Polizei u dem Militär der reaktionären Mächte, sondern auch von seiten der sozialistischen Führungskräfte. Revolutionärer Kampf ist nicht mehr erwünscht. Man sucht nach Vasallen. Da unten, irgendwo, kämpft Vietnam noch. Was aber, wenn der Kampf einmal zuende ist? (Vietnam muß siegen – doch darf es siegen?)“
Die präzise Frage: „Was machen die Russen mit den Amerikanern ab? Wenn Nixon nach Moskau kommt, wird er über Vietnam reden. Der Grad der Hilfe aus der SU bestimmt die militärischen Ergebnisse in Vietnam. Vietnam schenkt der SU eine große moralische Kraft. Man kann sich Nixon, der mit Vietnam nicht fertig wird, überlegen zeigen.“
Bemerkenswert schließlich diese Stelle: „es soll uns nicht wundernehmen u bestürzen, daß China u die SU den Obersten Befehlshaber des Massenmordes zu sich einladen. Es geht nicht nur um Vietnam, sie haben ihre eignen Angelegenheiten zu klären, sie haben, jeder seinerseits, ein entspanntes Verhältnis gegenüber den USA herzustellen, haben Bescheid einzuholen, wo Nixon steht, da sie nun zu Todfeinden geworden sind. Beide helfen sie Vietnam, die SU in größerm, China in kleinerm Maß, doch zugleich erschweren sie auch Vietnam den Kampf durch den wahnwitzigen, antimarxistischen Streit, den sie gegeneinander ausfechten. Welch ein Energieverlust! Daß der Sozialismus ideologisch so ausgehöhlt worden ist, daß er unfähig wurde, seine wichtigste Grundlage: den proletarischen Internationalismus am Leben zu erhalten!“
Peter Weiss: Notizbücher 1960–1971. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, 2 Bände, 860 Seiten.
Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, 2 Bände, 930 Seiten.
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