28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Das wertvollste Volk der Welt

von Heidemarie Hecht

Damals, im ersten Weltkrieg, waren auch die meisten Autoren der Schaubühne fest davon überzeugt, dass Deutschland am Ende gewinnen werde, nachgerade gewinnen müsse. Und das nicht nur zu Beginn, als sie mitten im Urlaub vom Kriegsausbruch überrascht worden waren.

Zwar sahen sie sehr bald, wie ihr Leben vom Krieg beeinträchtig wurde. Sie beklagten den Niedergang der Kunst, die primitiven Veranstaltungen der Theater, dachten nach über politische und sogar über wirtschaftliche Zusammenhänge, hörten rasch die ersten Berichte von der Front, die wenig mit dem edlen Kriegshandwerk zu tun hatten, von dem sie als Schüler in alten Büchern gelesen hatten. Es war offensichtlich nicht „süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben“, wie sie es im Schulaufsatz hatten beweisen sollen.

So wuchs ihre Skepsis. Ihr Nachdenken ist in Schaubühne-Heften der Kriegsjahre dokumentiert. Am Triumph „der deutschen Waffen“ aber hielten sie fest. Lange. So wie es fast das ganze gebildete, bürgerliche Deutschland tat. Es zeugte schon von großer Einsicht, wenn Leitartikler Germanicus im Januar 1918 annahm, dass England wohl doch „als zweiter Sieger aus dem Krieg“ hervorgehen werde.

Am deutschen Sieg – immer noch kein Zweifel. Woher die Gewissheit?

Sie waren Dichter und sensible Beobachter, sie wussten alles über Literatur und Kunst, sie wussten wenig über Politik, fast nichts über Wirtschaft, gar nichts über die Voraussetzungen, unter denen Kriege gewonnen oder verloren werden. Wer las schon Clausewitz?

Dafür wussten sie, was Völkerpsychologie ist. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte die eine Blüte und faszinierte ihre Anhänger. Danach verlor sie sich allmählich und machte anderen Gewissheiten Platz.

Die Psychologisierung von Völkern war eine Erklärung der Welt, so ganz nach dem Geschmack von Menschen, die der Kunst lebten. Da alle Völker ihre eigene Sprache haben, ihre eigene Kunst, in ihrer eigenen Landschaft leben – war es da nicht nahezu naturnotwendig, dass sie auch eigene Werte und eigene Moralvorstellungen entwickeln? Jede Nation ihre eigenen? Das war die wissenschaftliche Sicht auf die Verhältnisse.

*

Hören wir, was Egon Friedell daraus macht. Unter den zahlreichen Autoren, die sich mit diesem Thema nun beschäftigen, ist er einer der bekanntesten, der Wiener Feuilletonist, Essayist, Schauspieler, Conferencier.

Seine erste Frage ist die, die sich die ganze gebildete Nation nach Kriegsausbruch stellt: Warum sind wir Deutschen so unbeliebt in der Welt? Albert Einstein, einer der wenigen Kriegsgegner in diesen Tagen, erzählt Romain Rolland 1915 – „schallend lachend“ – wie sich die Professoren der Berliner Universität bei jeder ihrer Sitzungen fragten: „Warum sind wir in der Welt verhaßt?“

Friedell hat eine Antwort: „Deutschland ist ein […] wandelnder Vorwurf für Europa, denn Deutschland ist das Genie Europas.“ Wie alle Genies ist „es seiner Zeit weit voraus“, deshalb oft unverstanden, aber doch: ein Genie. „Zu einer Zeit, als man sich im Westen mit bürgerlichen Rührstücken und materialistischer Salonphilosophie abgab, schrieb Goethe den Tasso und die Iphigenie und Kant seine Vernunftkritiken. Zu einer Zeit, als in England Darwin und in Frankreich Comte [August Comte, französischer Mathematiker und Philosoph – H.H.] herrschten, konzipierte Nietzsche den neuen Menschen. Und auch heute …“

Friedell seziert die Kriegsziele der Gegner, die sie „ganz offen“ bekennen und „darin merkwürdig deutlich ihre spezifische Natur [verraten]. Völlige Entwaffnung! sagen die Franzosen; Zerstörung aller großen Fabrikanlagen! sagen die Engländer; Zerstörung überhaupt! Sagen die Russen. Also unbeliebt ist beim Franzosen in erster Linie die deutsche Kriegskunst, beim Engländer der deutsche Fleiß, beim Russen der deutsche Besitz. Der Haß der Franzosen ist vorwiegend der Haß des Tunichtgutes gegen den Tüchtigen […]. Die Tatsache Deutschland bedeutet eine permanente Herausforderung der französischen Eitelkeit und jener Empfindung, für die der Deutsche kein Wort hat, weil er sie nicht besitzt: des Ressentiments. Der Engländer hingegen ist frei von solchen Sentimentalitäten, für ihn ist der Deutsche nur hassenswert als der erfolgreichere merchant. Und die Wurzel des russischen Antagonismus ist noch primitiver […].“ Und so weiter. Und so weiter.

Friedell kommt zu dem Schluss: „Wann wird der Deutsche in der Welt beliebt sein? Nicht früher, als bis die Welt auf der Höhe der deutschen Kultur stehen wird. Nicht früher, als bis die deutschen Nationaleigenschaften zum Wesen der ganzen Menschheit gehören und dabei nicht mehr als ein Vorwurf wirken werden. Zwei davon sind es vornehmlich: Bescheidenheit und Sachlichkeit.“ Sie zeichneten den deutschen Menschen aus. Sie brauche die Welt. „Dann wird auch das Dichterwort sich erfüllen, das da sagt: ‚Am deutschen Wesen wird einmal noch die Welt genesen.‘“

*

Der Ruf vom deutschen Wesen und der gesunden Welt ist uns heute eine Lächerlichkeit. Wir nutzen ihn als ironischen Kommentar zu diesem und jenem. Den Vertretern der Kulturnation Deutschland war er bitter ernst. Und seit langem vertraut.

Auch Egon Friedell? Er war einer der ältesten Mitarbeiter der Schaubühne, bekannt als origineller, scharfzüngiger Autor. So amüsant, wie es nur einer sein kann, der das Leben von verschiedenen Seiten betrachtet. Immer wieder bestand er „auf dem Recht […], mir zu widersprechen“. Denn er wusste, wie zweifelhaft alle unsere Interpretationen der Welt sind. „Aufgabe des Menschen: Steuermann seines Narrenschiffes zu sein.“ So schrieb er nur ein Jahr später. In den ersten Monaten des Krieges aber war er, wie so viele, fest in der Hand einer großen Ideologie.

*

Fridell denkt an „Luther, der wahrlich ein größerer Revolutionär“ war „als diese aufgeblasenen Theaterrousseaus und Kolportagedantons“, verweist auf „die Gespräche Goethes, der ein größerer Seher und Gestalter war als dieser eitle und herzlose Brillantfeuerwerker Voltaire“ … „Faust und Friedrich der Große: welches Volk hat solche Nationalhelden?“

Wo ist da der Spötter, wo der Skeptiker? Die Welt von allen Seiten zu betrachten, das scheint nun, angesichts der großen Geschichte, unmöglich. Und so geht das Loben weiter: „Das deutsche Volk ist das bescheidenste der Erde, gerade weil es das wertvollste ist […].“ Natürlich. „Das Wesen andrer Völker findet seine Erfüllung in leichtfertiger Improvisation oder kalter Routine – die treibende Grundkraft des Deutschen ist enthusiastische Sachlichkeit.“ Denn der Deutsche erfüllt seine Pflicht, immer, „dort, wo er hingesetzt ist […] – Jeder andre denkt an den Ruhm oder gar an das Geld, jedenfalls aber an sich: der Deutsche denkt allein an die Sache […]. Dies sind ebenso alte wie einfache Wahrheiten. Es ist nur traurig, daß ein Weltkrieg nötig ist, um sie der Menschheit aufs neue einzuprägen.“

Wie kann dieses Volk im Krieg unterliegen? So blind kann die Weltgeschichte nicht sein. Die hatte schon Wilhelm II. (1907) beschworen, als er voraussah, dass eines Tages „unser deutsches Volk der Granitblock sein (werde), auf dem unser Herrgott seine Kulturwerke an der Welt aufbauen und vollenden kann“.

Der Herrgott und die Weltgeschichte … Angesichts solcher Fürsprache war eine deutsche Niederlage wohl unvorstellbar, damals, als Friedells Beitrag „Der unbeliebte Deutsche“ erschien – inmitten zahlloser anderer, ähnlicher in nicht wenigen Periodika. Vor 110 Jahren stand er in der Schaubühne, Ausgabe 21 im Mai 1915.

Trotzdem: wir sollten mal wieder Friedell lesen. Noch sind seine Bücher im Handel. Seine Essays. Seine Sketche. Seine große Kulturgeschichte. Angesichts eines seiner Auftritte schrieb ein Autor der Schaubühne 1913 über ihn: „sein Erscheinen allein erweckt Vergnügen“. Denn Fridell sagte „sehr kluge, sehr feine und oft sehr unliebenswürdige Dinge. Er ist amüsant und bedeutend zugleich. Was doch entschieden seltsam ist.“