28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Anton Sommer „ohne Mötze“

von Gerhard Müller

Anton Sommer? In literarischen Lexika wird sein Name nicht verzeichnet. Er war ein Provinzdichter südthüringischer Mundart und lebte von 1815 bis 1888. Man könnte ihn den Shakespeare Rudolstadts nennen, den Rivalen der Weimarer Dichter‑Gottheiten. Im Kneipengespräch seiner Landsleute sprudelten seine literarischen Quellen. Ab 1853 ließ er in unregel­mäßiger Folge seine „Bilder und Klänge aus Rudolstadt“ erscheinen, die sich in seiner Heimat noch immer großer Beliebt­heit erfreuen. Noch 1990 gab der Greifenverlag Rudolstadt einen Nachdruck der einbändigen Ausgabe von 1919 heraus. Aus diesem Band könnte man das Rudolstädter Leben und Treiben rekonstruieren. Wir erfahren, was und wie die Leute arbeiten und träumen, wie sie feiern und darben. Zwar kommt der Landesfürst auf der Heidecksburg über der Stadt nicht vor, dafür aber „Ardäpfelklus“, „Bratworscht“ und „Lagerbier“. Der ariose Singsang der Rudolstädter Sprache ist in unübertrefflicher Weise festgehalten. Diese Sprache musste man nicht vertonen, sie sang von allein.

Mir hann mal änne Mahd gehatt,
die worde nech von Assen satt,
die nippte dir aus jeder Flasche,
die tat von jedem Taller nasche,
on wu ä Topf in Schranke stand,
da war sche drönne met d’r Hand.

Es sind ja nicht die Worte, die die Dialekt‑Dichtung machen, wenn es auch viele Leute gibt, die vor Lachen sterben könnten, wenn man ihnen die „Bürgschaft“ auf sächsisch vorträgt, Silbe um Silbe ins Verballhornte übertragen. Es ist das vertrackte Gedankentum der Gassenleute und des Marktvolks, das seine Interessen und Geschäfte genau benennt, aber das Bildungsdeutsch der Zeitungen verachtet. Anton Sommer hatte ein geschärftes Gehör für Klänge und Nuancen der Volkssprache. Sein bis heute bekanntestes Gedicht ist ein Spottlied über Rudolstadt.

Ech bön off meiner Wanderschaft
nur allerwend gewasen,
ech ha mer alles angegafft
in Stuckert on en Drasen.
Ech bön bis nein nach Ungern gang,
war in d’r Schweiz zahn Wochen lang,
ha in d’r Lausitz Arbeit g’hatt –
’s giht doch nischt iber Rudelstadt.

In Sachsen und am Rhein gibt es kein Rudolstädter Felsenkeller‑Bier, in Österreich und Hessen keine Ardäpfelklöße, und weder da noch dort eine Bratworscht. Deshalb „giht nischt iber Rudelstadt“. Als in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts der erste Zeppelin vom Bodensee nach Berlin flog, versammelten sich die Rudolstädter auf ihrem Marktplatz und starrten in den Himmel. Über den „Kulm“ im Süden sollte er kommen. Aber er nahm seinen Weg über die Nachbarstadt Saalfeld, und die Saalfelder verhöhnten die enttäuschten Rudolstädter mit ihrer Nationalhymne: „’s giht nischt iber Rudelstadt“.

Weihnachten, Neujahr und Ostern, auch Pfingsten werden ausgiebig besungen, doch das größte aller Feste ist „de gruße Möttewoche“, der Mittwoch vor Himmelfahrt. Es ist ein Jammer, dass in unseren Kalendern ein so schöner Feiertag nicht mehr steht.

„Jedes Jahr, das Gott läßt ware,
Möttewoch vor Himmelfahrt,
kömmt nech sonst was in de Quare,
giht’s nach Rudelstädter Art
vormettag in Felsenkaller,
koste’s a den letzten Haller.
Jeder, glöcklich wie ä König
hat vor sich sei Kännchen stehnig…“

Die Verse sind auch selbst Musik. „Jeder hat ein Kännchen vor sich stehnig“, sagt der RudoIstädter, anstatt „vor sich stehen“, und „mehr als vier Maß (Bier)“ heißt „merre als a Maßer viere“. Anton Sommer stammte aus einer Musikerfamilie und studierte Theologie. Eine Pfarrstelle bekam er allerdings nie. Zuerst war er Hauslehrer in Blankenhain und Magdala, dann Gewerbelehrer in Berlin. Einmal kam er bis nach Rügen, das war seine weiteste Reise. 1848 verlor er infolge der Revolution seine Berliner Stellung und kam bettelarm nach Rudolstadt zurück. Er wohnte in einem Erkerstübchen neben dem Storchturm, wie Carl Spitzwegs Poet, und hier begann er zu dichten.

D’r ärschte Star
Etz kann sich nur d’r Winter schare,
’s ös alle nune met’n Schnein.
’s werd nun galjend Frihling ware,
denn horch! d’r erschte Star ös rein.

Salt druben sötzt’r off’n Storche
on blinzelt ronger nach d’r Stadt,
on tutt nach allen Seiten horche,
ob sich a nischt verännert hat.

Als der Rudolstädter Volksfreund dieses harmlose Gedicht abdruckte, verdächtigte man den Verfasser kommunistischer Tendenzen und verbot es. Den Beamten war es nicht geheuer, denn Anton Sommer schrieb in der verdächtigen Sprache der Gassen und Kneipen, der Nörgler und Meckerer. Deren sanftes gregorianisches Melo­disieren unterscheidet den thüringischen Dialekt sowohl von der Prosa des Nordens als auch vom sächsischen Mehlknödelton, dem Tschechischen mit deutschem Vokabular. Die bessere Rudolstädter Residenzgesellschaft sprach ebenso, und natürlich auch Goethe und Schiller. Allerdings mischten sie das Schwäbische oder Frankfurterische in ihre Sprache.

Diese Sprache begleitete meine Kindheit und Jugend. Sie war voller freundlicher Ironie, nie bösartig und gemein. In Leipzig saßen wir im Seminar und paukten die Klassiker und in den Semesterferien gingen wir in unser Stammlokal, die „Kaiserkrone“, die wir zeitgemäß in „Wilhelmsmütze“ umgetauft hatten, saßen bei den Stammgästen, Handwerkern und Musikern, Eisenbahnern oder Architekten, und hörten fasziniert, wie sie zu später Stunde Schiller oder Goethe rezitierten. Wenn wir durch die Nacht nach Hause stolperten, hörten wir, wie der Kantor Walter Schönheit in der Saalfelder Johanniskirche Beethovens 9. Sinfonie für das Silvesterkonzert probierte, und stimmten in den Schlusschor ein, natürlich in der Sommerschen Fassung:

„Fräide, schiener Gödderfunken,
Dochter aus Eliasbrunn,
jetze trink mer noch‘n recht’n Humben,
gelle, du, dann geh‘ mer huhm.“

Aus „Elysium“ wurde „Eliasbrunn“, ein Dorf im Thüringer Wald, aus der „Bürgschaft“ die Erzählung eines Handwerkers und Sachverständigen in Tyrannenmorden: „’s ös ämal ä König gewasen, dan wörsen in änn Haare ans Laben gang, denn ä Karl (Moritz oder Morus hieß’r, su warsch), met änn grußen Masser ongern Schlafittge, schlöch sich in’s Haus nein on wollte dan König erstache.“ Schillers „Räuber“ „rissen aus wie Schafleder“.  Aus dem „Lied von der Glocke“ wird das Lied vom „Schittchenbacken“. Das ist die Rudolstädter Bezeichnung für den Weihnachtsstollen, und statt um die Glocke dreht sich die Weltgeschichte um das nahrhafte Gebäck: „Fräde ös in allen Ecken, wenn zum Fast de Schittchen schmecken.“ In der Backstube machen sich die Weiber an ihr Backwerk.

Zugedeckt an warmen Flacke
stiht’s Mahl schonn an d’r Wand.
Heite woll mer Schittchen backe,
Ricke, Dorte, seid zor Hand!
Subald de Weiber wollen backe,
da werd a völ gegart derbei,
de Arbeit ging ju nech von Flacke,
wenn alle mößten stölle sei.

Aus dem, was „gegart“, nämlich gesprochen, wird, entwickelt sich die Weltgeschichte der kleinen Leute. Wo Schiller vom Feuer spricht, beschwört Anton Sommer das „Feuer-Wasser“, den Schnaps.

Wehe, wenn dar lusgelassen,
ohne Mötze, kreiz on quar,
kömmt getorkelt dorch de Gassen.
Wenn’r nichtern,
ös’r schichtern,
tutt kän Könne was zeleide.
Ab’r hat’r schräg geladen,
nachen haust’r wie ä Heide.

„Ohne Mötze“ – das ist der Weltuntergang. Anton Sommers Sprache ist von solchen Bildern durchsetzt. Von einem „narrschen Karl“, dem „alten Gotter“ sagt er: „Ar war von jehar kä grußer Arbeitsteifel gewasen, on se brauchten’s Horn nech aus’n Händen rauszeschneiden.“ Als während einer Teuerung die Brötchen immer kleiner wurden, ruft der Buchbinder dem Bäcker über die Straße zu: „Hörschte, Nachber, morgen werschte mer wuhl vorn Dreier Sammeln könne met’n Blasruhr rüberschieße!“ Der „Biertimpel“ soll nachts hübsch zu Hause bleiben und „auf die Tür aufpassen“, statt in die Kneipe zu gehen. Doch der verbindet das Nützliche mit dem Angenehmen:

On wie ech wack ging aus’n Haus,
hob ech de halbe Haustör aus
on ging dermet ze Biere.

Und auf die Frage, wenn er nun die Tür vergesse oder sie geklaut werde, antwortet er: „Ech hab’s Kichenfanster nor ahngelähnd.“

Zum Bier zitierten die alten Herren einst die Klassiker, und mancher wusste sogar den „Faust“ auswendig. Auch heute torkelt noch mancher schräg geladen durch die Gassen, aber Schiller rezitiert er nicht mehr, weder in der einen noch in der anderen Fassung.