Der Ostersonntag 1945 fiel auf den ersten April, doch war vermutlich niemand zu Scherzen aufgelegt. Angesichts des Stands der Dinge hätte man ohnehin eher Galgenhumor erwarten können. Zerbombte Städte, Millionen Flüchtlinge oder Displaced Persons auf der Suche nach einem Refugium, das öffentliche Leben vor dem endgültigen Zusammenbuch. Der Wehrmachtsbericht ein einziges Eingeständnis der Niederlage: Rückzug vor Wien, schwere Abwehrkämpfe von der holländischen Grenze über die Rheinebene bis zum Kleinen St. Bernhard in den Westalpen. Das Ruhrgebiet als letzte verbliebene Rüstungsschmiede vom übrigen Reichsgebiet abgeschnitten, amerikanische Panzerspitzen erreichen Thüringen, die in Breslau eigeschlossenen und im Raum Danzig kämpfenden Truppen auf verlorenem Posten, vom Kurland ganz zu schweigen … Eine besonders herausgestellte Ausnahme von dem allgemeinen Desaster: „An der Oderfront kam es zu keinen Kampfhandlungen von Bedeutung.“
An der Oderfront: Das war vor allem der Abschnitt zwischen Küstrin und Seelow, wo es der Roten Armee bereits im Januar gelungen war, mehrere Brückenköpfe zu bilden und zu halten. Wenn hier die Waffen vorübergehend schwiegen, so war das die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, der jederzeit wieder losbrechen konnte. Und dann – die Menschen fühlten das, und die Stäbe in Berlin und Wünsdorf wussten es – würde es kein Halten mehr geben. Für eine Armee, die ihren Gegner von Stalingrad bis zur Oder zurückgeworfen hatte, dürften die paar Kilometer bis Berlin dann auch kein ernsthaftes Hindernis mehr darstellen. Und dennoch vermochte sich niemand vorzustellen oder wollte es nicht wahrhaben, dass die Welt binnen weniger Wochen eine völlig veränderte sein würde. Und man klammerte sich um so trotziger an alles, was noch einen Hauch von Normalität aufzuweisen schien.
An diesem ersten April fand nun, in der evangelischen Kirche von Zossen, auch meine Konfirmation statt. Und sie wäre beinahe zu einem solchen Akt vermeintlicher Normalität geworden, wenn sich in die letzten Orgelklänge nicht das Aufheulen der Sirenen gemischt hätte: Fliegeralarm! Den verbrachten wir sicher im Keller des nahe gelegenen Gutshauses. Den Heimweg in unseren Ort mußten wir allerdings zu Fuß zurücklegen: der Zugverkehr war unterbrochen.
Wie nun das Ereignis feiern? Und vor allem: Mit wem? Meine Mutter war nach dem letzten Bombenangriff auf Wünsdorf von ihrer Dienstverpflichtung gegenüber der dortigen Panzer-Versuchsabteilung entbunden worden und demnach zu Hause. Mein Vater war nach einem längeren Lazarettaufenthalt in Richtung Ungarn in Marsch gesetzt worden und seither praktisch verschollen.
Meine Bitterfelder Lieblingstanten? Saßen selber auf dem Pulverfaß und konnten auch die Oma nicht alleine lassen. Verwandte in Trebbin scheuten die Gefährnisse der Fahrt. Die große Familie meines Vaters? „Pommernland war abgebrannt“, wie es in dem Kinderlied heißt, und niemand wußte, wer entkommen oder geblieben war. Einer meiner Onkel ist noch beim Volkssturm in Schneidemühl im Einsatz gewesen; ein anderer galt nach Kämpfen im Hürtgenwald (bei Aachen) offiziell als vermisst. So blieben nur ein Schulfreund, der selber nicht feierte, Mitbewohner aus dem Haus, vielleicht die Flüchtlinge aus Allenstein in Ostpreußen, die bei uns einquartiert waren, meine Klavierlehrerin.
Getrübte Stimmung, ziellose Gespräche, Fragen ohne Antwort, Gedanken, die ins Leere gingen. Möglicherweise Anlass, sich den beiseite gelegten Konfirmationsspruch noch einmal genauer anzusehen. Mir sind davon nur Bruchstücke in Erinnerung geblieben. Aber in der Rückschau von heute habe ich fast den Eindruck, dass sie damals „tagesaktuell“ ausgesucht gewesen sind. Die Forderung „Seid geduldig in der Hoffnung und stark im Glauben“ ähnelte in verblüffender Weise den Durchhalteparolen, wie sie seinerzeit gepredigt wurden. Und glauben sollte man natürlich – trotz allem – an den „Endsieg“.
Ob es nach den Feiertagen noch Schulunterricht gegeben hat? Wahrscheinlich nicht. Man wartete, auf den Zeitungsboten, den Briefträger, die Nachrichtensendungen – das funktionierte noch irgendwie – , wartete auf ein Zeichen, eine Botschaft, ein Wunder, wartete … Und dann ging alles ganz schnell: Am 16. April brach der Sturm an der Oderfront los, am 21. standen die Panzer mit dem roten Stern in Wünsdorf, tags darauf erreichten sie unseren Ort. Einer stoppte direkt vor unserem Haus, ein Soldat stieg aus und sagte: „Woina kaputt“, der Krieg ist aus.
Apokalypse oder Auferstehung? Ostern lag erst drei Wochen zurück.
Am 4. März 2025 wurde an Eva Schewe und Gerhard Schewe „als Anerkennung für ihre unschätzbaren Verdienste für Romain Rolland“ die Ehrenmitgliedschaft der Association Romain Rolland in Deutschland e.V, verliehen. Wir gratulieren. Siehe Blättchen 26/2024.
Schlagwörter: Gerhard Schewe, Ostern 1945