28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Lancelot mit der Drahtharfe – verklärte und aktuelle Reminiszenzen

von Walter Thomas Heyn

Wie in den Nachrichten zu lesen war, wurde der Dichter und Liedermacher Wolf Biermann für sein Lebenswerk von der GEMA geehrt. In der Begründung hieß es, Biermann verbinde „poetische Sprache, musikalische Tiefe und politischen Protest auf einzigartige Weise“. Biermann kommentierte das in seiner Presserklärung mit den launigen Worten: „Ich werde lieber gelobt als geschmäht und freue mich, dass mir die GEMA diesen Preis überreicht.[…] Schließlich beschäftigt sich die GEMA mit den beiden Musen – Text und Musik – die sich küssen müssen, um ein gutes Kunstwerk zu schaffen.“

Der im Osten legendäre, weil verbotene Politbarde Biermann mit dem schönen Vornamen Wolf, später der „Drachentöter wider Willen“ genannt, war die zentrale Bezugsperson für uns damals junge langmähnige und dank Oma Westjeans tragende, gitarrenspielende und singende Menschen. Er war das große Vorbild im Kampf gegen Ideologien, Kriegstreiberei, Personenkult und politische Dummheit. Mittlerweile ist er 88 Jahre alt geworden. Dass er einen Preis bekommt, ist natürlich vollkommen verdient. Ich gönne ihm in nie erloschener Bewunderung alle Preise dieser Welt auf einmal. Dass er ihn aber von der GEMA bekommt, die gerade dabei ist, ohne Not die Existenzgrundlage tausender ihrer Mitglieder zu beschneiden, wenn nicht gar zu ruinieren, hat allerdings einen bitteren Beigeschmack. Denn vor allem betroffen sein werden die jungen, die noch nicht bekannten, die unangepassten Kolleginnen und Kollegen.

Dabei hatte die GEMA zur Nachwendezeit Gutes getan. Eine leitende Mitarbeiterin in Berlin sagte zu mir damals, die GEMA „versuche, jeden Pfennig zusammenzukratzen, um den Ossis was auszahlen zu können.“ Und das stimmte. Auch Mitgliedsjahre wurden großzügig angepasst und auf Wunsch Vorauszahlungen gewährt. Das ging gut, bis bei der nächsten Mitgliederversammlung ein uralter Komponist aus Baden-Württemberg den Antrag stellte, die Ossis mögen gefälligst mit 40 Mark anfangen, wie er es nach dem Krieg tun musste. Der Antrag scheiterte.

Zurück zu unserem Preisträger. Wieder mal konnte man den seit Jahrzehnten umstrittenen kleinen großen Biermann in der Glotze bewundern: altersweise, altersmüde, listig und angriffslustig wie eh und je, aber auch zusammengesunken, rundlich. Wolf Biermanns Ausbürgerung nach zunächst elfjährigem Auftrittsverbot und dann nach seinem großen Konzert in Köln 1976 ist nächstes Jahr 50 Jahre her. „Das Ausbürgern möge sich nicht einbürgern“, riet damals Stefan Heim der Regierung in einem offenen Brief. Es ist alles anders gekommen.

Lange Kamerafahrten zeigen den Dichter redend. Zu bewundern ist der funkelnde Witz, die geballte Kunst der Dialektik, jeden Satz sofort zu relativieren, Alternativen anzudeuten, scheinbar unverrückbare „Wahrheiten“ mit einem Lächeln, einer Andeutung anzuzweifeln. Vor 50 Jahren gehörte ich zu seinen Jüngern. Das war die Zeit der Singeclubs, der Texterbuden und Liedermacher. Eine gar nicht so dumpfrote Zeit, wie man heute glaubt, eher offen, eher liberal, jedenfalls in der Jugendkultur. Einige hatten auch immer Lieder von Biermann dabei oder Tonbänder, die auf Jupiter- und Tesla-Geräten spätabends abgespielt wurden. Kaum jemand kann heute im Zeitalter der ununterbrochenen Verfügbarkeit jeder Art von Musik und Literatur die Bedeutung dieser Lieder für uns junge Leute nachvollziehen, Die Schallplatten mussten von der Oma aus dem Westen eingeschmuggelt werden, dann brauchte man zwei Tonbandgeräte, Tonbänder und die richtigen Kabel. Und dann wurden alle diese Lieder wieder und wieder kopiert, bis fast nur noch ein Rauschen zu hören war, vermischt mit verzerrten Wortfetzen und Tonsignalen wie aus dem All bei der ersten Mondlandung. Und diese Signale kamen ja auch aus einer anderen Welt, aus dem Kopf eines andersdenkenden, singenden Menschen. Die Wirkung dieser Lieder auf uns war unbeschreiblich, es war wie eine kollektive Trance, eine Offenbarung, ein Orakel, eine Möglichkeit, eine Hoffnung.

Überall gab es sie, die politisch engagierten Liedermacher, im Westen neben vielen anderen Franz Joseph Degenhart, Hannes Wader und Reinhard Mai, im Osten Bettina Wegner, Barbara Thalheim und Kurt Demmler, in Russland Wladimir Wyssotzky und Bulat Okudschawa. Manche fanden in der politischen Auseinandersetzung den Tod wie Victor Jara in Chile oder sie stießen eine kleine Revolution an wie José Afonso mit seinem Lied „Grandola vila Morena“, mit dem er die Nelkenrevolution begleitete. „In Portugal gab es seit Ende der 60er Jahre ähnlich wie in Südamerika, Spanien, aber auch in USA und Deutschland eine Bewegung von volksnahen engagierten und meist politisch linksstehenden Künstlern, die durch das Medium ‚Lied‘ einen Beitrag zum Aufbau eines politischen Bewusstseins in ihren jeweiligen Ländern beitragen wollten.“ So wertete Wolf Lustig.

Biermann war einer der herausragenden Vertreter dieser Protestsongbewegung. Ich schrieb nächtelang etwa 20 seiner Texte liebevoll mit der Hand ab. Die Musik hörte ich taktweise vom Tonband runter, so dass in Leipzig danach „ordentliches“ Notenmaterial mit den richtigen Griffen darüber zu haben war. 1974 wurden wir jungen Leute aus den Leipziger Singeclubs von der Bezirksleitung der FDJ gefragt, was wir denn dächten, wie sie mit diesem Biermann umzugehen hätten. Unsere Flötistin, die nebenher in einem Verlag arbeitete, schlug vor, alles in kleiner Auflage zu drucken, dann wäre der Dichter zufrieden, die Künstlerkollegen würden das kaufen, und die Arbeiter täte so was sowie nicht interessieren. Wir anderen waren der Meinung, Biermann ins westliche Ausland auf Tournee zu schicken, denn einen besseren Botschafter fürs Ländle konnten wir uns nicht vorstellen. Wir wurden seltsam angesehen und heimgeschickt.

Zwei Jahre später kam es zum Eklat, genannt Ausbürgerung. Wir wurden wieder einbestellt, was wir denn nun zum „Vorgang“ meinten. „Vorher kannte ihn keiner, jetzt kennt ihn jeder“, sagte die Flötistin, die mittlerweile zwei Kinder hatte und das Wort Mutterschutz geschickt für sich in Anspruch nahm. Ihr geschah nichts. Der zweite Gitarrist Tommy, Arbeiterkind, knallrot, Offiziersanwärter, sagte: „Das ist euer Ende“. Er sagte nicht mehr „unser“, sondern „euer“, spielte also offenkundig nicht mehr mit. Eine Woche später war er arbeitslos, obwohl man in der DDR nicht arbeitslos sein konnte. Die Sängerin brachte ihn in der Sternburgbrauerei Schkeuditz als Bierkutscher unter. Drei Jahre später erhängt er sich.

Biermann war durch seine Ausweisung Mittelpunkt und Opfer der zentralen kulturpolitischen Todsünde der DDR-Kulturpolitik. Denn 1965 war im Westberliner Wagenbach-Verlag seine Gedichtsammlung „Die Drahtharfe“ erschienen. Sie enthielt auch den Text mit dem Titel „Antrittsrede des Sängers“ und der enthielt die Zeilen: „ Die einst vor den Maschinengewehren mutig bestanden, fürchten sich vor meiner Gitarre“. Sofort setzte die Hetze ein, und dem Dichter wurde die Ausreise nahegelegt. Klaus Höpcke wurde beauftragt, einen Artikel gegen Biermann zu verfassen, der am 5. Dezember. 1965 im ND erschien. Ilko-Sascha Kowalczuk urteilt darüber in seiner Ulbricht-Biographie: „Wolf Biermann, so die Botschaft des einstigen Pimpfs Höpcke und dem SED-Politbüro, würde dem Vermächtnis seines im Konzentrationslager als Kommunist und Antifaschist umgebrachten Vaters untreu werden. Die SED versuchte auch auf Biermanns Mutter Emma, eine kampferprobte Kommunistin, in Hamburg Einfluss zu nehmen.“

Für die DDR war Wolf Biermann laut Stefan Wolle ein „Skandal par excellence“. Obwohl er staatlichen Repressionen ausgesetzt war, gingen viele Zeilen seiner Gedichte als geflügelte Worte in den Sprachgebrauch ein, etwa „es geht sein’ sozialistischen Gang“. Das gesungene Gedicht Ermutigung entwickelte sich „fast zum Volkslied“ und zur „heimlichen Nationalhymne der DDR“, meint Wolle. Es wurde bei Kirchentagen gesungen und in kirchliche Liederbücher aufgenommen.

Meine Lippen blieben damals geschlossen. Für mich war das ein Spiel: Katze-Maus-David-Goliath-König-Hofnarr. Antizyklisch hatte eben mal der Hofnarr gewonnen, ich fand es eher lustig. Drei Tage nach dem zweiten Besuch in der FDJ-Bezirksleitung erschien die Sängerin bei meiner Mutter und bewog sie dazu, ihr die liebevoll abgeschriebenen Biermann-Lieder zu borgen. Alle! Ich bekam sie natürlich nie wieder. In der Akte las ich später, dass sie im Auftrag gehandelt hatte. Genau genommen hat sie mir geholfen: Das Beweismaterial war weg. Ich konnte studieren.

Es schwelte schon damals ein etwas Neues in der kulturellen Luft meiner Heimatstadt, das es vorher nicht gab. Wohlverborgen in Kellern, in Garagen, auf improvisierten Hinterbühnen, bei der jungen Gemeinde und in den Studentenclubs begann sich eine Gegenkultur zu etablieren, eine sehr politische Kultur aus Liedermachern, Rockern, Sängerinnen und Literaten. Ja damals, da hatte man noch „ein Ziel vor den Augen, damit man in der Welt sich nicht irrt. Damit man weiß, was man machen soll“, wenn man bald in den Westen abschwirrt. So sangen es – Louis Fürnberg persiflierend – jedenfalls Persönlichkeiten des öffentlichen Kulturlebens, also Maler, Popper, Gammler, Gauner, Gruftis und Gewandhausmusiker in stark alkoholisiertem Zustand zu Leipzig an ausgewählten Orten der Erlebnisgastronomie. Schon damals übrigens war manchmal an einem der Nachbartische das eine oder andere Soldatenlied zu hören, dass nicht im NVA-Liederbuch stand, sondern 50 Jahre weiter zurück reichte. Und einmal zeigten sich die besoffenen Roten und die besoffenen Brauen im Thüringer Hof per Münzfernsprecher im Restaurant gegenseitig bei den „Organen“ an und forderten diese zum Eingreifen auf.

Auch die Jugendlichen in den Tanzschuppen der heutigen südlichen thüringischen und sächsischen Dörfer, die wir langmähnigen Blues- oder Rockmusiker regelmäßig mit den aktuellen West-Hits beglückten, waren damals in Teilen schon so, wie sie heute noch oder schon wieder sind: Verschworen im Kampf gegen die anderen vom Nachbardorf, der Lust an der Gewalt nicht abgeneigt, misstrauisch, verschlossen, fremdenfeindlich. Alles, was die ostdeutschen Besonderheiten, Eigenarten, Seltsamkeiten bis in die Gegenwart prägt, war unter der Decke Recht und Ordnung und unter der gelben Sonne der blauen FDJ-Hemden damals schon da.

Die Wende ist nun 35 Jahre her. Und wieder mal ist kein Geld für die Kunst da. Die Komische Oper Berlin wird nie in ihr berühmtes Stammhaus an der Behrenstrasse zurückkehren, vermutlich wird sie nicht einmal überleben. 250 Mitarbeiter des RBB stehen schon auf der Straße und auch das eine oder andere Orchester wird es noch erwischen. Die freie Szene in Berlin blutet aus. Auch die kleinen Kindertheaterbühnen, die Jazzclubs, die unabhängigen Galerien werden an den Rand gedrückt oder gleich ganz totgespart. Es geht ja bloß um Kunst, und die kann weg.

Was wird Biermann dazu sagen? Und vor allem: was wird er dazu singen? Mein Vorschlag: „Du, lass dich nicht verhärten / in dieser harten Zeit / die allzu hart sind, brechen / die allzu spitz sind, stechen / und brechen ab sogleich.“ Der Text trägt den Titel „Ermutigung“.