Als er anfing in Leipzig als Chef vom Schauspielhaus, da war der Mauerfall fünf Jahre her. Und Wolfgang Engel gerade fünfzig. Noch bestes Mannesalter für den neuen Job als Theaterdirektor. Für ihn insofern eine Premiere und noch dazu ein Sprung ins kalte Wasser: Es war seine erste Intendanz; und nun gleich Großstadttheater, eins, das künstlerisch am Boden lag, umzingelt von Sparzwängen. Aber die Aufstiegserwartungen, die waren gigantisch.
Leipzig kochte damals. Das euphorisch gleißende Etikett hieß „Boomtown des Ostens“. Dahinter steckten Wahnsinnschaos, Auf- und Zusammenbrüche, Irritationen aller Arten und jede Menge Chancen. Und mittendrin das kaum beachtete Stadttheater, dessen Restpublikum und deren heillos zerstrittener Besatzung noch die 31 Jahre Intendanten-Diktatur eines Poststalinisten in den Knochen steckte. Sowie die nervöse Hilflosigkeit mehrerer Nachwende-Direktionen.
Eine neue Führung wurde gesucht, und das Interesse der Theatermacher an dieser verkommenen Großbühne in sozialpolitisch aufregendem Umfeld war riesig. Weil die Herausforderung einzigartig. Gut zwei Dutzend Bewerber standen Schlange. Doch einer aus dem Osten, ein waschechter Widerständler, ein in Ost und West ruhmreicher Regisseur ward berufen: Engel!
Seine erste Amtshandlung: ein Anschlag auf dem schwarzen Brett. „Die Existenz eines Künstlers wird wieder eine unsichere sein. Wir werden alle lernen müssen, daraus Vorteile zu ziehen.“
Sein Eröffnungsspiel im Herbst 1995: Peter Handkes wortloses, bilderreiches Gesellschaftsdefilee „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Es geriet zum bestürzenden, ätzenden, aber auch anrührenden, komisch grotesken Spiegelbild der Leipziger und zerrte an deren Herzen.
Zuvor gab Engel den Terminator: Schmiss Leute raus, holte neue, formte das Ensemble um nach seinem Bilde. Ja, er musste, er konnte verneinen: schwache Leistungen, verlockenden Konformismus, falsche Ideen, elitären Großkotz, Unwahrhaftigkeiten. – Doch er integrierte auch. Gab den Gruppentherapeuten, den großherzigen Versteher, breitschultrigen Beschützer, begeisterten Ermöglicher. Und den nervenstarken Bauherrn (neue Spielstätten wurden rekrutiert, das Haupthaus komplett saniert).
Wolfgang Engel glaubte an ein Theater der erhebenden Geschichten und der großen Gefühle. An die Schaubühne als moralische Anstalt, aber auch als Glamour-, Musik- und Showbetrieb. Glaubte an die Macht der sozialen Verhältnisse wie an die des eigenen Willens („Die Pest bist du selbst!“). Und an den Bedeutungsverlust dekonstruktivistischer Kunst.
Und er hat sich nicht unterkriegen lassen. Nicht von trickreichen Etatsparkommissaren und nicht von der allgemeinen Tunnelblick-Sucht auf die Quote. Dafür zitierte er Lorca: „Das Theater muss sich beim Publikum durchsetzen, nicht das Publikum beim Theater.“
Mutig und selbstbewusst griff er nach den Klassikern, was sich heutzutage eher wenige noch trauen. Sie bescherten ihm die größten Erfolge: Beide Teile „Faust“, „Karlos“, „Die Orestie des Aischylos“. Sein „Wallenstein“ war der beste neben Peter Stein in Berlin und Thomas Langhoff in Wien.
Leipzig, das war ein kühner Aufbruch in ein richtig starkes Stadt-, und kein billiges Quoten- oder teures Hochfeuilleton-Theater. Das aber war auch schweißtreibende Kärrnerarbeit. War in den dreizehn Jahren nicht immer die reine Lovestory mit den lieben Leibzschern. Dennoch, der fast gesunkene Tanker war wieder flott. Und der Weg offen, sich als gefragter Regisseur auf freiem Feld zu tummeln.
Doch da gärt bis heute noch die Erinnerung an einen anderen, früheren, vielleicht viel wichtigeren, stärkeren, auch mutigeren Aufbruch! – Es war Engels Jahrzehnt in Dresden.
Das Staatsschauspiel bot ihm ab 1980, er war Mitte dreißig, ein erstes Festengagement als Regisseur (zuvor Bühnenarbeiter, Schauspielstudium, Provinztheater). Hier, im so zwielichtigen Tal der Elbe, gelang ihm – von einer weisen Direktion gefördert – der Durchbruch zu einem der anerkanntesten, prägendsten Regisseure des DDR-Theaters (gnädigerweise mit Arbeitsmöglichkeiten auch im Westen).
Hier war jede seiner suggestiven, bildmächtigen Inszenierungen ein Training des aufrechten Gangs. Hier wuchs Engel zum Meister der politischen Metapher auf der Bühne. Er filterte sie aus dem Schicksal der jeweiligen Figuren im Stück. „Wir haben ja alle Texte gegen die Mauer geschmissen“, erinnerte er sich. Ohne erkennbar strikte, ostentative Verweigerung jeglicher ideologischen Fremdbestimmung waren diese Schmisse undenkbar. Das war das seinerzeit absolut Unverschämte.
Unerhört, unvergesslich, herzzerreißend seine Inszenierungen von Goldonis „La Guerra“, Hebbels „Nibelungen“, Müllers „Anatomie Titus“, die Shakespeare-Sonette. Seine sarkastisch-fatalistische, irr erotische, bei aller Abgründigkeit vollkommen plausible Sicht auf Kleists „Penthesilea“ ist uns, dies sei hier zitternd gestanden, schmerzlich süß für immer in die Seele gebrannt. Nie wieder waren wir diesem fernsten Kleist so nah.
Im Gedenken sehen wir den tollen Hecht vor uns: Stämmig, Löwenmähne, Riesenschnauzer, Nickelbrille, „F6“ paffend, bullig, über der Wampe die Hosenträger, darauf in kyrillischen Buchstaben die Skandalworte jener Zeit: „Glasnost“, „Perestroika“ (wo gab’s bloß diese Hosenträger?). Alsbald kam dann auch das allabendliche „Wir treten aus unseren Rollen heraus“ vor dem Vorhang. Die staatskritische Volksversammlung im Anschluss an die Kunst.
Engel, einer der aktivsten Sprecher der aus ihren (halbwegs) geschützten Höhlen heraustretenden, sich formierenden Dresdner Bürger-Öffentlichkeit ging nach dem Fall der Mauer, medial etikettiert als ostdeutsche Kreativmaschine, schnurstracks ans Schauspiel nach Frankfurt im Westen. Um herauszufinden, wie es läuft mit der Kunst, wenn die Mauer weg ist, gegen die man einst so kunstvoll Texte schmiss. Es ging nicht wirklich gut aus am Main.
Danach,1995, kam Leipzig. Der 1943 in Schwerin Geborene und seit Jahrzehnten Wahlsachse zurück in Sachsen. Freilich mit dem hübschen Etikett Dresdner Superman. – Stolz drauf? Er fand es albern. Aber immerhin …
Am 7. März 2025 ist Wolfgang Engel nach langer Krankheit mit 81 Jahren gestorben. Doch Monate zuvor noch spielte der alte Theaterhase, Schmerzen wegsteckend, im Neuen Theater Halle.
Schlagwörter: Reinhard Wengierek, Schauspielhaus Leipzig, Staatsschauspiel Dresden, Wolfgang Engel