Es ist wieder mal Wahl gewesen. Überall hingen Politiker auf Plakaten rum, die Wähler brauchten. Überall waren Presseleute, die News brauchen und ein paar Beamte des höheren Dienstes, die vor allem Ruhe brauchen. Die Laternenmasten und die Baumstämme mussten schwere Arbeit leisten: Höher und höher hinauf geht es mit den Wahlplakaten, und umso tiefer ist der Sturz der unsanft herabgerissenen Helden aller Parteien, zu Fall gebracht von jugendlichen Bilderstürmern diverser politischer Farbschattierungen. Manche Plakate sehen aus, als wären sie Gegenstand einer symbolischen Hinrichtung geworden: Rübe runter und Deckel drauf. „Ah ja, ins nichts mit Ihm“, sang schon 1951 der Chor am Ende der Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ von Brecht und Dessau.
Mir fällt dazu noch eine wenig tröstliche Gedichtzeile von Andreas Reimann aus den Vorwendejahren ein: „Die Bäume sind abgehauen. / Die Freunde sind abgehauen.“ Ja damals, da hatte man noch „ein Ziel vor den Augen, damit man in der Welt sich nicht irrt. Damit man weiß, was man machen soll“, wenn man bald in den Westen abschwirrt. So sangen es jedenfalls Persönlichkeiten des öffentlichen Kulturlebens, also Maler, Rocker, Popper, Gammler, Gauner, Gruftis und Gewandhausmusiker in stark alkoholisiertem Zustand zu Leipzig an ausgewählten Orten der Erlebnisgastronomie. Schon damals übrigens war manchmal an einem der Nachbartische das eine oder andere Soldatenlied zu hören, dass nicht im NVA-Liederbuch stand, sondern 50 Jahre weiter zurückreichte. Und einmal zeigten sich die besoffenen Roten und die besoffenen Brauen per Münzfernsprecher im Restaurant gegenseitig bei den Organen an und forderten diese zum Eingreifen auf. Besagter Dichter, der im Stasi-Knast saß, während seine Lyrik ab und zu im ND gedruckt wurden, schrieb daraufhin den Text: „Sie sind nicht gefordert, Herr Staatsanwalt“.
Auch die Jugendlichen in den Tanzschuppen der heutigen südlichen thüringischen und sächsischen Dörfer, die wir langmähnigen Blues- oder Rockmusiker regelmäßig mit den aktuellen West-Hits beglückten, waren damals in Teilen schon so, wie sie heute noch oder schon wieder sind: verschworen im Kampf gegen die anderen vom Nachbardorf, der Lust an der Gewalt nicht abgeneigt, misstrauisch, verschlossen, fremdenfeindlich. Alles, was die ostdeutschen Besonderheiten, Eigenarten, Seltsamkeiten bis in die Gegenwart prägt, war unter der Decke Recht und Ordnung und unter der gelben Sonne der blauen FDJ-Hemden damals schon da.
Die Gedanken schweifen zurück in das vorletzte Jahr vor der ersten freien und gleichzeitig letzten Volkskammerwahl am 18. März 1990, also in das Jahr 1988. Jeder meiner Bekannten hatte da schon einen Pass. Sogar die Kollegen vom Free Jazz, die dem verblichenen Ländchen nun wirklich keinen Millimeter entgegengekommen waren, reisten drüben umher. Ich hatte keinen und kam mir vor wie der letzte Idiot. Also stellte ich Anträge, viele und alle gleichzeitig – und vergaß sie. Doch dann wurde mir beiläufig mitgeteilt, dass ich meine Papiere bei der Polizei abholen könnte, es wäre alles in Ordnung. (Was, bitte?). Ich ging also zur Meldestelle, die in einem schönen Jugendstilhaus neben der jungen Gemeinde residierte und wartete. Der Nächste bitte, das war ich.
Ich möchte einen Pass in den Westen.
Todesfall, runder Geburtstag, Hochzeit?
Nein.
Sondern?
Ich möchte nach Hamburg ins Theater.
Es folgte eine sehr lange Pause. Dann prustendes Gelächter und der Ruf: „Erna, gomm mal her, hier will eener ins Deaddr.“ Die ganze Dienststelle lag krumm vor Lachen. „Junger Mann“, sagte schließlich eine Frau mit beeindruckenden Schulterstücken, „Deaddr brauchen se nich im Westen anguggen, das ham mir hier jeden Tach.“
Ich bekam den Pass trotzdem und wurde in Hamburg angesichts der Alster von einem würdigen alten Herrn gefragt, wie mir Deutschland gefalle. Meine Sprachlosigkeit darauf hält bis heute an. Die Frage ist es wirklich wert, gründlich bedacht zu werden.
Die Wahl am 18. März fand stand in der Turnhalle der EOS Hans Beimler, die schon wenige Monate später Goethe-Gymnasium heißen würde. Es gab Wahlkabinen, aber Bons für ein Bier und eine Bockwurst (rote und grüne Kinokarten) gab es nicht. Es sang auch kein Singeclub. Dabei hätte „Sag mir, wo Du stehst und welchen Weg Du gehst“ doch heute und hier besonders gut gepasst. Der Wahlzettel erheiterte uns sehr. Wir lachten über Pfarrer Ebeling und seine DSU und über den Demokratischen Aufbruch und die PDS, denn alle waren fest überzeugt, dass die Bürgerrechtler, die den Prozess ja überhaupt erst in Gang gebracht hatten, haushoch gewinnen würden: Bärbel Bohley for President, das war doch sonnenklar. Das ernüchternde Ergebnis sah aber dann ganz anders aus: die CDU mit ihrer Allianz für Deutschland holte 40,8 Prozent, die SPD 21 Prozent, die PDS 16 Prozent und Bündnis 90 2,9 Prozent. Auf den Bildschirm des Wahlvolkes erschien kein strahlender Sieger, sondern der nuschelnde Lother de Maizière.
„Aber was für Ticker sind die Politiker? Sind sie wirklich so vonnöten, wie man glaubt?“, hatte Georg Kreisler vor Jahren gesungen und dabei die Politiker auf der Po-Silbe akzentuiert. Das damals schon anschlussheischende Gesäß war ja auch von imposanter Opulenz. Und so kam schicksalhaft unwettergleich der Tag der Währungsunion über die ungläubigen Gläubigen. „Freiheit – was ists? Der Geschlagenen Glauben, einer gewänne das Ihre für sie.“ So schrieb es Kumpel Reimann, bei dem die Benachrichtigung über die Verleihung des Schillerpreises und der Fragebogen des Sozialamtes über seine Vermögensverhältnisse am gleichen Tag im Briefkasten lagen.
Das ist nun 35 Jahre her. Und wieder rollen die De-Industriealisierungswellen durch das Land, diesmal durch die westliche Hälfe, was die Sache für die jetzt Betroffenen und die damals Betroffenen nicht besser macht. Aus dem früheren Sehnsuchtsort wird ein banaler Standort, in dem die aktuelle Krise streng nach Kapitalisten-Lehrbuch mit Flucht, Lohndrückerei und Entlassungen bekämpft wird. Und natürlich auf dem Rücken derer, auf deren Rücken das eben immer stattfindet. Und alle Preise steigen …
Die Gewerkschaft Verdi hält dagegen und fordert zum Beispiel von der BVG drastische Lohnerhöhungen, nämlich für die rund 16.000 Beschäftigten monatlich 750 Euro mehr. Die Erhöhung entsprich fast meiner Monatsrente. Zudem verlangt sie ein 13. Monatsgehalt, eine Wechselschichtzulage in Höhe von 300 Euro und eine Schichtzulage von 200 Euro. Und die gleiche Gewerkschaft fordert, die Gebühren für eine Stunde Musikunterricht an den Musikschulen auf 56 Euro anzuheben. Der aktuelle Regelsatz in Brandenburg sind derzeit 25 bis 35 Euro. Musikunterricht für ein Kind kostet dann 224 Euro pro Monat und wird zum Hobby der Reichen. Vater Bach oder Vater Schubert hätten das schon mal nicht bezahlen können.
Wieder mittendrin leiden auch die Künstler an der Orgie der Kürzungen und nicht minder die Universitäten, die Krankenhäuser und die Pflegeheime. Die Komische Oper ist ein besonders markantes Trauerspiel: Nie wird sie in das ruhmreiche alte Haus an der Behrenstrasse zurückkehren, vermutlich wird sie nicht mal überleben. 250 Mitarbeiter des RBB stehen schon auf der Straße, und auch das eine oder andere Orchester wird es darüber hinaus noch erwischen. Und die freie Szene in Berlin blutet aus. Die kleinen Kindertheaterbühnen, die kleinen Jazzclubs, die unabhängigen Galerien: Sie alle werden an den Rand gedrückt oder gleich ganz totgespart. Es geht ja bloß um Kunst, und die kann weg. Das Krankenhaus in der Provinz kann auch weg, denn es rechnet sich ja ebenso wenig.
Der Wahlzettel diesmal war kurz und lies wenig Raum für Alternativen. Die Wahl, die es gab, war, die Stimme durch Vergabe an kleinere Parteien zu „verschenken“, taktisch zu wählen, gar nicht zu wählen. Wir haben ein halbes Dutzend Talkshows durchlitten und erstaunt bemerkt, wie eng die Damen und Herren Repräsentanten alle beieinander lagen, obwohl sie versuchten, uns das große Kino der Gegensätze vorzugaukeln. Spätestens als die Altkanzlerin Angela Merkel die amtierende Außenministerin lediglich Annalena nannte und erst nach größerer Pause den Nachnamen nachschob und Frau Weidel beinahe das gleiche passierte, wusste ich es wieder. Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten. Altmeister Tucholsky hat wie immer recht!
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