Seit Herbst 2016 mehrten sich unter US-amerikanischem Botschaftspersonal auf Kuba Fälle von Kopfschmerz, Übelkeit, allgemeiner Erschöpfung sowie Hör- und Sehproblemen. Ähnliches wurde später aus US-Einrichtungen in China, Russland, den USA, Österreich, Deutschland und anderen Staaten gemeldet. Schnell vermuteten einschlägige Experten hinter den als „Havanna-Syndrom“ bezeichneten Vorgängen eine neuartige Infraschall- oder Mikrowellen-Waffe. Während sich US-amerikanische Geheimdienste jedoch offiziell schwer damit tun, hinter den Geschehnissen einen „ausländischen Gegner“ auszumachen, vermuten Rechercheportale wie der Spiegel, dass hinter dem Ganzen der russische Militärgeheimdienst GRU stecken könnte.
Die Zurückhaltung der US-Dienste in Sachen „Havanna-Syndrom“ ist durchaus verständlich. Da sind zum einen negative Erfahrungen, denn vor Havanna gab es schon mal das „Moskauer Signal“: Mitte der 1960er Jahre vermutete Washington hinter dem massiven Mikrowellen-Beschuss seiner Moskauer Botschaft einen großangelegten Angriff der Sowjets auf sein Verschlüsselungssystem. Müdigkeit und Verwirrung unter Botschaftsmitarbeitern galten als Beleg dafür, dass Moskau Mikrowellen als Waffe einsetze, um menschliches Verhalten zu beeinflussen oder gar das Bewusstsein zu kontrollieren. Die US-Amerikaner wussten, wovon sie sprachen, denn im Rahmen eines Pandora genannten Projekts hatten sie selbst bis Ende der 1960er Jahre den Effekt von Mikrowellenstrahlung auf Menschen mit dem Ziel erforscht, entsprechende Waffen zu entwickeln. Kurz vor Beginn der Experimente mit menschlichen Probanden in Fort Detrick wurden alle Arbeiten wegen mangelnder Validität eingestellt – wahrscheinlich aber auch, weil US-Geheimdienste inzwischen festgestellt hatten, dass mittels gepulster Strahlung Abhörwanzen in den Wänden der Moskauer US-Botschaft aktiviert wurden und nicht das Bewusstsein der Diplomaten manipuliert werden sollte.
Der Faszination für waffenfähige Strahlentechnologie hat dies jedoch bis heute keinen Abbruch getan, wie nicht zuletzt die von der US-Agentur für militärische Grundlagenforschung (DARPA) vorangetriebenen Projekte WARDEN (das die Reichweite und Effektivität von Hochleistungs-Mikrowellen verbessern soll) oder RadioBio (das der Frage nachgeht, ob elektromagnetische Wellen zielgerichtet innerhalb und zwischen Zellen übermittelt, respektive empfangen werden können) belegen.
Ungebrochen ist aber auch die Kritik an Waffensystemen mit „bewusstseinsveränderndem“ Potential. Erinnert sei nur an die Warnung des deutsch-amerikanischen Pentagon-Wissenschaftlers Bruno Augenstein vor Projekt Pandora, das ihn mit seinem potentiellen Eingriff in die menschliche Persönlichkeit stark an ein anderes fragwürdiges Nachkriegsprojekt US-amerikanischer Geheimdienste erinnerte: das Projekt MKUltra.
MKUltra war ein streng geheimes CIA-Programm zur Erforschung von Möglichkeiten zur Bewusstseinskontrolle. Im Mittelpunkt standen Experimente zur Bestimmung von Drogen, mit denen in Verhören Individuen durch Hirnwäsche gebrochen und zu Geständnissen gebracht werden konnten. MKUltra begann in den frühen 1950er Jahren und soll in den frühen 1970er Jahren beendet worden sein. Ahnungslosen Probanden wurde psychotrope Substanzen, vorzugsweise LSD, verabreicht; gearbeitet wurde ebenfalls mit Elektroschocks, Hypnose, Reizentzug, Isolation und andere Formen von Folter. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Operation Midnight Climax in San Francisco, Mill Valley und New York Prostituierte rekrutiert, mit deren Hilfe man herausfinden wollte, welcher Zusammenhang zwischen sexuellen Praktiken und Informationsgewinnung bestehen könnte.
Zu einen Zentrum US-amerikanischer Hirnwäsche-Aktivitäten wurde das Allan Memorial Institute im kanadischen Montreal. Unter Leitung des schottisch-amerikanischen Psychiaters Donald Ewen Cameron wurden hier unter dem Vorwand, Heilmethoden für Schizophrenie zu finden, mit CIA-Geldern Forschungen vorangetrieben, die mit Praktiken wie „depatterning“ (Löschung pathologischer Denkinhalte durch Elektroschock) und „psychic driving“ (Verankerung fremdgesteuerter Inhalte im Gedächtnis durch deren permanente monotone Wiederholung vom Band) bei ahnungslosen Patienten verheerende Bewusstseinsmanipulationen bewirkten.
Die im Allan Memorial Institute gesammelten Erfahrungen fanden nach Expertenmeinung ihren direkten Niederschlag in den „fortgeschrittenen“ Verhörpraktiken der US-Amerikaner in Guantanamo, Abu Ghraib und anderen Teilen der Welt.
Was früher als „Hirnwäsche“ bezeichnet wurde, heißt inzwischen „kognitive Kriegführung“, auch „kognitive Dominanz“. Dabei geht es längst nicht mehr um die „Heilung“ psychischer Krankheiten, sondern um Angriffe auf das menschliche Denken, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen.
Ermöglicht werde dies laut Bernard Claverie, einem der geistigen Väter dieses Konzepts, durch die jüngsten Fortschritte in der kognitiven Wissenschaft. Bis vor kurzem, so der französische Neuropsychologe, basierten sogenannte PSYOPs (psychologische Operationen), einschließlich Propaganda und Desinformation, auf einem sehr lückenhaften Verständnis kognitiver Prozesse. Entsprechend uneffektiv habe sich daher auch die Kontrolle dieser Prozesse gestaltet: Gegner, Wettbewerber oder Konsumenten seien mit Informationen in der Hoffnung „gefüttert“ worden, diese mögen deren Entscheidungen und deren Verhalten beeinflussen.
Die Entwicklung sogenannter „harter“ kognitiver Wissenschaften, die nicht-deutend sowie verifizier- und quantifizierbar seien, habe all dies verändert. Claverie: „Diese Disziplinen studieren das Denken als materielles Objekt unter Einbeziehung diverser Wissensgebiete: der Neuro- und Sprachwissenschaften, der Psychologie, der analytischen Philosophie sowie der digitalen Wissenschaften, einschließlich KI. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass es möglich ist, kognitive Prozesse als solche punktgenau ins Visier zu nehmen und damit das Denken des Gegners unmittelbar zu verändern.“
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine der ersten NATO-Veranstaltungen zu „kognitiver Kriegführung“ ausgerechnet in Kanada stattfand. Seit 2017 werden unter Federführung des Alliierten Transformations-Kommandos (ACT) zweimal im Jahr sogenannten NATO Innovation Challenge durchgeführt. Im Oktober 2021 wurden in diesem Rahmen Militärs, Akademiker und Vertreter der Wirtschaft eingeladen, um unter der Überschrift „The invisible threat: Tools for countering cognitive warfare“ („Die unsichtbare Bedrohung: Werkzeuge zur Bekämpfung der kognitiven Kriegsführung“) Möglichkeiten der Abwehr kognitiver Attacken zu diskutieren.
Eine speziell für das Ereignis erarbeitete 45-Seiten-Studie aus der Feder des ehemaligen französischen Offiziers François du Cluzel, seit 2013 damit befasst, dem sogenannten NATO Innovation Hub in Norfolk, Virginia – einer Art NATO-internen Denkfabrik – auf die Sprünge zu helfen, begann mit der Feststellung, „kognitive Kriegführung“ sei der „Kampf ums menschliche Hirn“ und setze bei der heutigen „Hyperkonnektivität“ an: Jeder habe ein Smartphone. Alles drehe sich um Information – sie sei „der Treibstoff kognitiver Kriegführung“. „Kognitive Kriegführung“ sei die „Kunst, Technologien zu nutzen, um das Erkenntnisvermögen menschlicher Ziele zu verändern“. Dazu zählten Nano- Bio- und Informationstechnologie sowie die kognitive Wissenschaft. Zusammengenommen, bilde all dies „einen sehr gefährlichen Cocktail, der das Gehirn […] manipulieren kann“.
Diese neue Angriffsmethode gehe „weit über Informationskriegführung oder PSYOPs hinaus.“ „Kognitive Kriegführung“ sei nicht nur „ein Kampf gegen das, was wir denken, sondern vielmehr ein Kampf gegen die Art, wie wir denken“.
Laut du Cluzel transformiere die Entwicklung „kognitiver Kriegführung“ unsere bisherige Vorstellung von militärischen Konflikten auf radikale Art und Weise: „Neben einer physischen und Informationsdimension wird dem modernen Gefechtsfeld eine dritte Kampfdimension hinzufügt: eine kognitive.“
Mit anderen Worten: Die Menschen selbst seien die neue, umkämpfte Domäne neben der des Bodens, der See, der Luft sowie des Cyber- und des Weltraums. Ein breites Spektrum militärischer Anwendungen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Soldaten sowie zur Entwicklung neuen militärischen Geräts, etwa von Energiewaffen“, würde bereits diskutiert …
Insbesonders neurowissenschaftliche Methoden und Technologien werden auf diesem Weg zunehmend waffenfähig gemacht. Im Krieg eingesetzt, vermögen sie Funktionen des Nervensystems zu verstärken oder zu schwächen, um, wie es du Cluzel ausdrückt, die kognitiven, emotionalen sowie motorischen Aktivitäten und Fähigkeiten (das heißt Wahrnehmungen, Urteilsvermögen, Moral, Schmerztoleranz und physische Anlagen wie Ausdauer), die bei Kampfeinsätzen erforderlich seien, zu beeinflussen. Du Cluzel: Viele Technologien könnten entsprechende Effekte erzeugen; „die Nützlichkeit von Neurowaffen sowohl in konventionellen als auch irregulären Kriegsszenarien ist unumstritten“.
Unumstritten ist aber auch, dass mit der Militarisierung der Neurowissenschaften eine weitere Büchse der Pandora geöffnet wird.
Schlagwörter: Hirnwäsche, kognitiv, Kriegführung, Neurowaffen, neurowissenschaftlich, Peter Linke


