28. Jahrgang | Nummer 4 | 24. Februar 2025

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Liliom“ – Berliner Ensemble Neues Haus / „Replay“ – Schaubühne / „Der Lügenprinz“ – Berliner Ensemble Werkraum

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BE: Liebe und Hiebe

Luisa, ein Teenager von 16 Jahren, wird im Streit von einem Mann geschlagen; es ist ihr Vater Liliom, doch das weiß sie nicht. Nachdem der weg ist, fragt sie Julie, ihre Mutter: „Kann es sein, dass jemand einen so heftig schlägt und es nicht weh tut?“ – Die antwortet „ja“, so sei das auch ihr geschehen. – Mit diesem erschütternd nüchternen Wortwechsel endet „Liliom“, Ferenc Molnárs Vorstadtlegende von anno 1909 in der Inszenierung Christina Tscharyiskis. Ein provokantes Finale, das heutzutage wirkt wie ein schwerer Schuss gegen Emanzipation und Feminismus.

Liliom (Jannik Mühlenweg), Karussellausrufer auf dem Rummel, pocht auf seinen Ruf als unverschämter Frauenverführer – sein freilich einziger „Erfolg“. Ansonsten ist der Schlaks ein armes Würstchen, von Frauen abhängig wie der reifen Ringelspielbesitzerin Muskát (Bettina Hoppe) oder dem blutjungen Dienstmädchen Julie, das er schwängert (Lili Epply), rücksichtslos ausnutzt und immer wieder hemmungslos misshandelt. Ein Frauenschläger aus Wut und aus Scham über sein prekäres Dasein. Dem gedenkt er abzuhelfen mit viel Geld. „Es kann doch sein, dass auch aus einem Unmensch ein Mensch wird“, sagt er seltsam weinerlich zu Julie. Und lässt sich vom aasig eisigen Kumpel Stutzer (Oliver Kraushaar) überreden zu einem Raubmord. Doch alles läuft schief, Liliom rammt sich das Messer selbst in den Leib. Julie in schmerzensreicher Trauer kriecht ihm zur Seite aufs Totenbett.

Der Kritiker Alfred Kerr urteilte einst über die bittersüße Rummelplatzballade, sie leuchte vor Kitsch und Genie. Die geniale Neuübersetzung von Terézia Mora aus dem Ungarischen tilgt alles Bittersüße (der Polgar-Übersetzung von 1912).

Dem entspricht die Regie, die mit atemberaubender Coolness eine bitterkalte Fallstudie der Besessenheit entrollt: Die fürs Liebesglück alles Unglück hinnehmende Frau; der für Aufstieg und Anerkennung alle Vernunft beiseiteschiebende Mann. Sie sind Getriebene mit unstillbarer Sehnsucht nach Daseinserfüllung, die unerfüllt bleiben muss. Zwei Vergeblichkeitsmenschen auf dem zunehmend gefährlicher sich drehenden Karussell ihres fatalen Lebens. Eine Tragödie – klar, karg, wahr in allen, auch feministischen Zeiten. Begleitet von Kyrre Kyams schmerzlichem Sound mit Schuberts depressivem „Leiermann“-Lied aus der „Winterreise“.

Mit einem Ensemble beklemmend minimalistischer Schauspielkunst; auch in den beiden komplementären Nebenrollen: Das ins herzige Eheleben trudelnde Aufsteigerpaar Marie (Joyce Sanhá) und Hugo (Adrian Grünewald).

Und wer weiß Antwort auf Luisas Frage nach Männergewalt, die Frauen nicht spüren? – Angst? Die Himmelsmacht Liebe?

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Schaubühne: Parade der Traumata

Mit parodistischem Schwung schmettert die Frau Mama (Ruth Rosenfeld) ihren beiden halbwüchsigen Töchtern (Carolin Haupt, Eva Meckbach) ein paar gellende Spitzentöne der Brünnhilde aus Wagners „Ring“ an die Köpfe. Eine divenhafte Demonstration ihrer singulären Stimmbandkraft im Kinderzimmer. Denn die Dame ist Opernstar in Dresden anno 1987. Und aggressiv nervös kurz vor der Abreise nach Bayreuth. Auf den Gipfel ihrer Karriere. Von dort wird sie, was keiner ahnt, nicht mehr zurückkehren. Und Töchter nebst Ehemann sitzen lassen im sächsischen Jammertal.

Ein schwer traumatisierendes Ereignis für die ganze Familie (Lüge, Vertrauensbruch, Verrat): Der Gatte (Renato Schuch), informeller Mitarbeiter der Stasi (ohne Verpflichtungserklärung kein Reisepass für Mutti), versinkt im Alkohol. Die Mädels – eins versucht gar, sich umzubringen – bleiben durch den Schock lebenslang beziehungsgestört.

Womit wir beim Thema von „Replay“ sind, einer über Generationen hinweg ausgetüftelten Familienaufstellung von Yael Ronen, von ihr selbst inszeniert als Leporello auf der 140 Minuten allzu lang pausenlos kreisender Drehscheibe mit vielen grob aufs Sensationelle zugespitzten Episoden aus dem bunten Leben der Sippe zwischen 1987 bis 2024.

Die gleichbleibenden Punkte, auf die zunehmend vorhersehbar alles ausgedacht ist in dieser schauspielerisch bestens illustrierten, regielich perfekt geölten Show: Die immerzu weitergegebenen Verhaltensmuster des Gestörtseins, das beständige Verraten, Brechen oder Verweigern von Vertrauen.

Schon deshalb, weil keine der Figuren, auch die mit den Jahren Hinzugekommenen (Männer der Mutter, der Mädchen – Christoph Gawenda, Renato Schuch in mehreren Rollen), weil niemand auf diesem unentwegt sich drehenden Neurosekarussell der Unglückseligen Anstalten macht, gegen das Schicksalhafte anzurennen, aufzubegehren, gar den Absprung zu wagen. Alle ächzen unter Psycho-Erblast. Kleben in „Strange Loops“.

Das wiederum hat mit William Strauss und Neil Howe zu tun, die Ideengeber für Ronens „Replay“. Die nämlich denken in ihrem Bestseller „The Fourth Turning“ Geschichte nicht als Fortschreiten, sondern als zyklische Bewegung. Dem Kreislauf der Jahreszeiten gleich setzen sich Traumata schier unendlich in Familien fort. Die Macht des Schicksals. Das Dasein prinzipiell vorprogrammiert. Tragödien am laufenden Band. Wir alle sind die hoffnungslos Ausgelieferten. Dementsprechend ist der Reigen der pittoresken Szenen konstruiert. Also kein Widerstand, nirgends. Keine Wandlung, keine Transformation – aus den Trümmern der Katastrophen aber könnte doch auch Neues grünen …

Wie schade, denn genau das wäre spannend! Stattdessen Dekoration mit überflüssig mystischem Video-Geflimmer und Johann Sebastian Bach als musikalischem Kompagnon. Yaniv Fridel und Ofer (OJ) Shabi adaptieren effektvoll klingend „Canon Perpetuus“. Weil: Der Regie gilt Bachs Kompositionstechnik als früher Beweis für zyklische Welt- und Daseinsbewegung. Das sticht ins Erhabene, ohne die freilich gekonnt hingeblätterten Ministorys der Mischpoke triftiger zu machen. Uns zu packen und aufzuregen.

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BE: Petitesse in der Pappkiste

Was ist der Mensch? Die ewige Frage umspielt Henrik Ibsen in seinem ungestümen, heißkalten Lebensleporello aus greller Abenteuer-Kolportage, nihilistischer Daseinsreflexion und zynischer Gesellschaftssatire „Peer Gynt“ (1876). Dieser nordische Bursche, ein Saft- und Kraftkerl zwischen Faust und Don Quixote, wird verglichen mit einer Zwiebel: Lauter Schalen, kein Kern.

Selbstsüchtig folgt Peer dem Motto „Sei dir selbst genug“. Und pfeift auf der Bürger pädagogisches Ideal „Werde du selbst“. Das Herzchen Solveig verlässt er immer wieder. Nur über „Umwege“, nur „drumherum“ statt „mittendurch, könne er zu ihr. Und tobt als Geschäfte machender Egomane um die Welt.

„Peer Gynt“, das moralisierende Märchen und philosophierende Ideendrama, die ätzende Gesellschaftssatire, dieses so staunende wie erstaunlich analytische, auf Großbühnen stundenlang sich hinziehende Monumentaltheater aus Sagen- und Wirklichkeitswelt inszenierte jetzt im Rahmen des Laborprogramms WORX im BE-Werkraum Lucia Wunsch – und zwar als wortkarges 45-Minuten-Minimaltheater „nach“ Ibsen mit Texten von Hannah Zufall.

Und weil Peer auch ein Spinner ist, der sich selbst froh in die Taschen lügt, trägt die kurze Veranstaltung den hübschen und neugierig machenden und am Ende wenig einlösenden Titel „Der Lügenprinz“.

Dessen Welt ist jetzt eine begehbare Pappkiste mit wenig Platz (Katja Pech). Auch nicht, um der prinzlichen Lügerei genauer nachzugehen. Und schon gar nicht ätzt Satire im Karton oder wird gestaunt. Die Weltreisen entfallen, und dem Philosophischen genügt der Verweis auf die Zwiebel.

Zu sagen, das streng artifizielle, gelb-rot ausgeleuchtete Kleinstkunstwerk sei die Perfomance eines Peer-Gynt-Gerippes, wäre übertrieben. So wie die Annonce der Regisseurin, man begebe sich mit dem Prinzen „auf eine Reise ins Innere eines Lügners“.

Immerhin, die puppenähnlich dressierten Spieler Constanze Becker, Paul Herwig, Amelie Willberg, gewandet in schicke, an Privatschul-Uniformen erinnernde Kostüme (Svenja Kosmalski), die drei verlautbaren am schnellen Schluss die alte Weisheit, dass des Menschen Streberei letztlich nix sei.

Von Peer bleibe „höchstens ein blitzender Knopf an der Weste der Welt“, so heißt es bei Ibsen.