Die deutsche Vereinigung war unter anderem durch den radikalen Umbau der ostdeutschen Hochschullandschaft und durch den Austausch des dort bis 1990 lehrenden und forschenden Personals gekennzeichnet. Während die weitestgehende Substitution ostdeutscher durch westdeutsche Hochschullehrer in der Vergangenheit durchaus thematisiert worden ist, fand der Aufstieg ostdeutscher Wissenschaftler im bundesdeutschen Hochschulwesen nach 1990 bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Es gab ihn aber, wenn auch nur für eine verschwindend kleine Minderheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das Buch „Vergessene Ungleichheiten“ versucht nun, diese Lücke zu schließen, indem in ihm erstens herausgearbeitet wird, dass die Herkunft „Ost“ auch 35 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik immer noch „eine Determinante sozialer Ungleichheit darstellt“ und für eine „systematische Schlechterstellung in der Gegenwartsgesellschaft“ sorgt. Zweitens wird gezeigt, dass sich hinter dem Begriff „ostdeutsch“ ganz „unterschiedliche Identitäten“ und „Lebenserfahrungen“ verbergen. Drittens schließlich wird dies anhand autobiographischer Zeugnisse exemplarisch demonstriert. Abschließend wird versucht, die autobiographischen Texte analytisch einzuordnen und unter verschiedenen Aspekten zu diskutieren.
Die einzelnen Beiträge sind, wie nicht anders zu erwarten, von unterschiedlicher Qualität. Was aber generell hervorsticht, ist die Originalität der achtzehn autobiographischen Skizzen, die den Hauptteil des Buches bilden. Sie verkörpern ein in dieser Form einmaliges Dokument des deutschen Vereinigungsprozesses. Ihre Brisanz und ihr historischer Wert sind darin zu sehen, dass hier erstmals eine Minderheit deutscher Wissenschaftler über ihre differenten Lebenserfahrungen in zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen berichtet. Was sie miteinander verbindet und was ihr Gemeinsames ausmacht, ist neben ihrer Herkunft ihr beruflicher Erfolg: „Für alle mündete die in der DDR begonnene oder erst nach 1989 angefangene Wissenschaftskarriere auf einer Professur […].“ Dies sticht umso mehr hervor, weil es nicht der Regel entspricht, sondern eine Ausnahme darstellt und mit den bitteren Erfahrungen der meisten ostdeutschen Wissenschaftler deutlich kontrastiert. Der Personalabbau im ostdeutschen Hochschulwesen betraf 55 bis 60 Prozent. Dabei gab es aber „erhebliche disziplinenspezifische Unterschiede“. So wurden die Sozial- und Geisteswissenschaften weitaus „stärker verwestlicht“ als Medizin und die MINT-Fächer, wozu Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zählen. Am härtesten traf es die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, wo die Personalsubstitution mehr als 90 Prozent betrug. Bezeichnenderweise findet sich unter den abgedruckten Erfolgsbiographien deshalb auch nur eine Juristin und kein einziger Ökonom.
Insgesamt stellt die ostdeutsche Wissenschaftselite heute immer noch so etwas wie ein „Oxymoron“ dar. Anhand von Statistiken wird gezeigt, dass „je höher die formelle oder reputativ-informelle Subeliten- und Elitenposition im Feld der bundesdeutschen Wissenschaft ist, desto unwahrscheinlicher wird eine Besetzung mit Ostdeutschen“. Dabei lassen sich vier Phasen der Elitenzirkulation in Ostdeutschland unterscheiden: Die erste Phase begann bereits Ende 1989/Anfang 1990. Die zweite Phase setzte Ende 1990 ein und dauerte bis Mitte der 1990er Jahre. In ihr endeten vor allem die zeitweiligen Befristungen ostdeutscher Wissenschaftler. Es folgte eine dritte Phase, die Phase der „Normalisierung“, welche bis Mitte der 2000er Jahre andauerte. Zuletzt, in einer vierten Phase, etwa ab 2015/16, ist ein langsamen Anstieg des Anteils der Ostdeutschen in den Eliten, aber eigentlich nur in den MINT-Fächern, zu konstatieren. In den anderen Disziplinen reproduziert dieser sich auf einem außerordentlich niedrigen Niveau, in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften nur bei null bis fünf Prozent. Man kann daher immer noch von einer „gut 50%igen Unterrepräsentation der Ostdeutschen im Sektor Wissenschaft“ sprechen. Insbesondere gilt dies fast unverändert für die Geistes-, Sozial und Wirtschaftswissenschaften.
In einem sehr lesenswerten Beitrag wird klargestellt, dass die Forschung über die DDR „keine Forschung wie jede andere“ sei, da sie „stark von dominanzkulturellen Deutungen geprägt“ werde. Das beginne mit der Begrifflichkeit. Als Beispiel wird angeführt, dass im Westen die DDR als „ehemalige DDR“ erscheine, die Bundesrepublik dagegen als „Deutschland“. Dies beträfe aber auch die Thematisierung der „Ungleichheit“. So wurde zum Beispiel „die Benachteiligung der Ostdeutschen auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene wiederholt und empirisch nachgewiesen“, zugleich aber werde sie für das Gelingen der deutschen Einheit als „nicht relevant“ angesehen. Dies entspräche, so die Autorin, einer Leugnung von Ungleichheit und sei ein „Merkmal von Dominanzkultur“.
Schaut man sich die achtzehn Autobiographien näher an, so erfährt man einiges über wissenschaftliche Leistungen, ideologische Anpassung, akademische Aufstiegshürden und individuelles Engagement. Mitunter aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verfasser trotz ihres zweifelsohne berechtigten Stolzes auf die eigene Leistung unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck stehen. Sie wissen vielleicht selbst nicht genau, was es letztlich war, das gerade sie „qualifiziert“ hat, nach 1990 nicht wie Tausende andere beruflich abzustürzen und ins Bodenlose zu fallen, sondern als „Vereinigungsgewinner“ einer Art Prädestination teilhaftig zu werden und zu Professoren aufzusteigen. Formulierungen wie das Eingeständnis, vielleicht einfach nur „zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“ gewesen zu sein oder schlichtweg „Glück gehabt“ zu haben – eine Formel, die beinahe in jedem Text vorkommt – sprechen für sich. Man hätte sich gewünscht, dieser Aspekt wäre etwas tiefer ausgelotet worden, denn „Glück“ ist eine allzu unbestimmte und vieldeutige Kategorie!
Im letzten Teil des Buches werden sozialwissenschaftliche Erklärungen für die Auswahl der Biographien und den höchst selektiven Charakter der Darstellung angeboten. Zudem ein Aufsatz über die Bedeutung sozialer Beziehungen für eine akademische Karriere in der Bundesrepublik. Dabei zeigt sich, dass die allgemein vertretenen Aussagen mit den konkreten Biographien nicht immer zusammenpassen. So zum Beispiel die generelle Behauptung, dass „in der DDR die politische Einstellung zum SED-Regime die zentrale überlagernde Determinante von Erfolg und Misserfolg im Bildungssystem“ war. Tatsächlich traf dies für fast die Hälfte der untersuchten Fälle aber nicht zu, denn alle im Sample vorgestellten Wissenschaftler erlangten in der DDR zwar die bildungsseitigen Voraussetzungen für eine akademische Karriere, aber nur etwa die Hälfte von ihnen zeigte eine positive Einstellung zum SED-Regime!
Das Buch demonstriert sehr anschaulich, wie differenziert die Transformation im Hochschulwesen verlief und wie individuell die seltenen Karrieren ostdeutscher Wissenschaftler hier waren. Um dies retrospektiv besser als bislang verstehen zu können, leistet es einen beachtenswerten und wertvollen Beitrag.
Laura Behrmann, Markus Gamper, Hanna Haag (Hrsg.): Vergessene Ungleichheiten. Biographische Erzählungen ostdeutscher Professor*innen, tanscript Verlag, Bielefeld 2024, 554 Seiten, 35,00 Euro.
Schlagwörter: Elite, ostdeutsch, Professor, Ulrich Busch


