Zum westlichen Spätkapitalismus gehört, dass der Nationalstaat sich in fragmentierte Gemeinschaften auflöst. So wurde in Washington auch das „geopolitische Establishment“ eine selbstreferentielle „Führungsgruppe, die keinerlei intellektuelle oder ideologische Bindungen außerhalb ihrer selbst besitzt“. Der „perverse Effekt“ dessen – so Emmanuel Todd in seinem neuen, sehr lesenswerten Buch „Der Westen im Niedergang“ – ist: Je mehr sich die US-amerikanische Regierung mit Außenpolitik befasst und eine „ambitionierte Weltpolitik“ verfolgt, desto mehr außenpolitische Stellen sind zu besetzen, desto mehr nationales Vermögen wird dafür aufgewendet und um so größer ist der potenzielle Einfluss dieser Gruppe, mit der Neigung, Bedrohungen aufzublasen und Konflikte aufzuheizen.
Emmanuel Todd, Jahrgang 1951, Demograph, Ethnologe und Historiker, sagte 1976 das Ende der Sowjetunion voraus. Das machte ihn, nachdem dies eingetreten war, weithin bekannt. Anfang des neuen Jahrhunderts verfasste er einen „Nachruf“ auf die Weltmacht USA. Die versuchten nach dem Kalten Krieg Weltreich zu werden, hörten aber nicht auf, Nation zu sein. Das bedeutet, die Kosten für die imperiale Politik, deren Nutznießer US-amerikanische Oligarchen sind, müssen von der Nation, den US-amerikanischen Steuerzahlern getragen werden. Die unternommenen Versuche, dazu Tribute der abhängigen Länder heranzuziehen, hielt er für gescheitert. Im Grunde hatte Todd hier eine Politik vorhergesagt, wie sie jetzt Donald Trump betreibt. Zwanzig Jahre später diagnostiziert er den „Niedergang“ des Westens. Dessen Krise sei „die treibende Kraft der Geschichte“, die wir heute erleben. Zentral ist weiter der Niedergang der USA.
Eine zentrale Gestalt sieht er in Robert Kagan. Todd nennt ihn den „unruhigsten und gewalttätigsten aller neokonservativen Ideologen“. Sein Vater ist ein Militärhistoriker namens Donald Kagan, der aus Litauen stammt. Wie überhaupt etliche Personen der globalistischen Eliten der USA „familiäre Verbindungen zum westlichen Teil des ehemaligen Zarenreiches haben“. Mit anderen Worten, die Feindschaft gegenüber Russland stammt nicht aus der Gegenwart, sondern hat tiefere Wurzeln in der Geschichte. Bei Zbigniew Brzezinski, der aus dem polnischen Kleinadel stammte, wussten das alle. Es gilt aber offenbar auch für andere Akteure in Washington. Frederick Kagan, der Bruder von Robert, ist ebenfalls Militärhistoriker. Beide haben in Yale studiert. Robert Kagan also, so Todd, „denkt sich Bücher aus, in denen er in den höchsten Tönen den Beitrag militärischer Mittel zur Vitalität des Planeten und der Demokratie lobt“.
Im Jahre 1997 wurde das „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“ (PNAC) gegründet als neokonservative Denkfabrik mit Sitz in Washington D.C., die für eine weltweite Führerschaft der USA werben und Konzepte dafür ausarbeiten sollte. Die Idee vom „Ende der Geschichte“ bildete die philosophierende Grundlage. Zu den Mitgliedern des PNAC gehörten Dick Cheney, der 2001-2009 Vizepräsident unter dem Republikaner George W. Bush war, Donald Rumsfeld, 2001-2006 Verteidigungsminister von Bush, Paul Wolfowitz, 2001-2005 stellvertretender Verteidigungsminister und danach Weltbank-Direktor, Richard Perle, 2001-2003 Präsidentenberater, und Jeb Bush, Bruder des George W. Bush. Richard Perle war Mitbegründer und einer der Vorsteher des PNAC, Robert Kagan bald dessen öffentlichkeitswirksamstes Gesicht.
Der Afghanistankrieg der USA und des Westens nach dem 11. September 2001 und vor allem der Irak-Krieg ab 2003 waren direkter Ausfluss der Vorstellungen dieser Neokonservativen von einer aktiven militärischen Veränderung der Welt durch Kriege der USA, „Regime Change“ im Namen von Demokratie und Menschenrechten als Sinn und Zweck US-amerikanischer Außenpolitik. Dazu gehörte auch die Osterweiterung der NATO, um Russland möglichst weit nach Osten zurückzudrängen, sowie die Politik der Kriegsdrohungen gegen den Iran.
Das PNAC wurde 2006 aufgelöst. Seine Positionen waren als „neuer Imperialismus“ ins Gerede gekommen und die Protagonisten benötigten es nicht mehr, saßen sie doch inzwischen an den Schalthebeln der Macht. Kagan publizierte weiter in einflussreichen Zeitungen und Zeitschriften, 2008 war er außenpolitischer Berater des republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain, der dann gegen Obama verlor und einer der schärfsten Gegner Trumps innerhalb der Republikanischen Partei war, und 2012 Berater des ebenfalls gegen Obama glücklosen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney.
Zu den Etiketten, mit denen Trump bereits während des Wahlkampfes 2016 versehen wurde, gehörte, er sei „Faschist“. Das stammte ursprünglich von Robert Kagan. Der entsprechende Text war mit „Herrschaft des Mobs“ überschrieben und suggerierte im Untertitel: „Mit Donald Trump kommt der Faschismus nach Amerika“. Der Spiegel publizierte den Text auf Deutsch (Nr. 22/2016). Trumps linksliberale Gegner im In- und Ausland hatten diese Etikettierung freudig übernommen und wiederholen sie inbrünstig bis heute. Kamala Harris hatte dies am Ende ihres Wahlkampfes zur zentralen Losung gemacht. Das hatte ihr dann aber auch nichts mehr geholfen.
Kagans Frau ist Victoria Nuland, die bis Januar 2017 stellvertretende Außenministerin der USA mit Zuständigkeit für Europa und Eurasien war, öffentlich bekannt geworden 2014 durch den „Fuck the EU“-Spruch, als gerade der von ihr maßgeblich mitinitiierte Regimewechsel in der Ukraine auf Hochtouren lief. Sie verkörpert wie kaum jemand anderes die Kontinuität der interventionistischen Linie der Außenpolitik der USA, wie sie der Neokonservatismus erstrebt. Ihre jüdisch-orthodoxen Großeltern stammten aus Bessarabien (heute Republik Moldau), das ebenfalls zum Zarenreich gehörte. Sie war unter dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton Stabschefin des stellvertretenden Außenministers Strobe Talbott, dem republikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney diente sie als sicherheitspolitische Beraterin, war Repräsentantin der USA bei der NATO und diente Barack Obama als stellvertretende Außenministerin.
Joe Biden machte sie nach seinem Amtsantritt als Präsident wieder zur stellvertretenden Außenministerin. Neben Außenminister Antony Blinken und Sicherheitsberater Jake Sullivan galt sie als einer der wichtigsten Lenker der Außenpolitik der Biden-Administration, insbesondere in Bezug auf die Russland-Politik und den Ukraine-Krieg. Bei ihrer Verabschiedung im März 2024 betonte Blinken, sie habe in 35 Jahren unter sechs Präsidenten und zehn Außenministern gewirkt.
Zur Familie gehört außerdem Kimberley Kagan, die Schwägerin von Robert und Gattin von Frederick. Sie gründete 2007 das Institute for the Study of War (ISW) mit Sitz in Washington, das vor allem von US-amerikanischen Rüstungsunternehmen finanziert wird. Es publizierte vor allem Berichte zum Verlauf der Kriege in Irak, Afghanistan und Syrien. Seit 2022 veröffentlicht es Bewertungen und die bekannten täglichen Karten zum Verlauf des Ukrainekrieges, die weltweit nachgedruckt werden und regelmäßig suggerieren, die Ukraine würde den Krieg gewinnen.
Familie Biden war ihrerseits in Sachen Ukraine aktiv. Obama hatte Vizepräsident Joe Biden zum Beauftragten gemacht. Als im Februar 2014 die Maidan-Demonstrationen zum Bürgerkrieg und zum Regime-Change gemacht wurden, um die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands in den des Westens zu bugsieren, war er es, der den gewählten ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch per Telefon schließlich zum Rücktritt nötigte und mit den neuen Herren die neue Macht verabredete.
Bidens Sohn Hunter trat dann im Mai 2014 dem Verwaltungsrat des ukrainischen Gasunternehmens Burisma Holdings bei, dem er bis April 2019 angehörte. Dafür soll er laut verschiedenen Medien etwa 50.000 Dollar monatlich erhalten haben, obwohl er nicht über Erfahrungen im Gasgeschäft verfügte. Später gab es Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in der Ukraine und der Steuerbehörden in den USA, die bisher nicht zu einer Verurteilung geführt haben.
Joe Biden hat seinen Sprössling Anfang Dezember mit Präsidentenerlass begnadigt. Der war zuvor wegen Steuerhinterziehung und illegalen Waffenbesitzes für schuldig erklärt worden. Die Begnadigung gilt jedoch nicht nur in Bezug auf die Delikte, um derentwegen er jetzt schuldig gesprochen wurde, sondern für alles, was er von Januar 2014 bis 2024 getan hat. Es gilt also vorsorgend auch für alle Delikte, die vielleicht noch ans Licht des Tages kommen. Auch für die Gasgeschäfte in der Ukraine und damit verbundene allfällige Steuerhinterziehungen.
Schlagwörter: Emmanuel Todd, Erhard Crome, Neokonservatismus, Robert Kagan, Victoria Nuland, Weltmacht USA